Der Scheinsieg des Premiers

Nach dem Brexit stehen die Briten vor vielen Problemen.

  • Ian King
  • Lesedauer: 4 Min.

Boris Johnson hebt die Arme triumphierend hoch wie ein Boxweltmeister. Die ihm hörige konservative Presse jubelt dem Premier zu: Alles geschafft! Der Brexit ist vollzogen und ein entsprechender Vertrag mit der EU abgeschlossen worden. Die Briten sind zum Jahresbeginn aus dem EU-Binnenmarkt ausgetreten und die neuen Covid-Impfstoffe sind da. Friede, Freude, Eierkuchen - könnte man meinen. Doch die Realität sieht anders aus.

Der Jubel über Impfstoffe klingt hohl, weil in den vergangenen zwei Tagen wieder fast 2000 Briten an Sars-CoV-2 gestorben sind. Es dürfte ein Jahr dauern, bis die 65-Millionen-Bevölkerung geimpft ist. Zudem muss die Regierung durch eine konsequent restriktive Politik die Todesrate reduzieren. Das ist aber nach ihrer bisherigen Leistung nicht anzunehmen. Stattdessen war eine Zickzackpolitik zwischen »Wir müssen der Wirtschaft durch Wiederöffnung auf die Beine helfen« und »Jetzt muss Weihnachten doch gestrichen werden, es sterben zu viele« zu beobachten.

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2021 soll das Jahr des globalen Britanniens werden. Die Regierung in London will sich neuen Freunden zuwenden, ohne die alten in der EU zu vergrätzen. Hier sollte Johnson an die Lkw-Schlangen von Dover in der Vorweihnachtszeit denken. Lastwagenfahrer auf dem Weg in die EU und aus der Europäischen Union brauchen nun neue Frachtdokumente. Im Hafen von Dover sind deswegen erneute Staus zu erwarten. Die Einwanderung in rassistischer Manier zu reduzieren, war eines der erklärten Ziele der Brexit-Kampagne. Doch das Ende der Freizügigkeit hat auch für britische Bürger Konsequenzen. Sie verlieren das Recht, in allen Staaten der Europäischen Union zu leben und zu arbeiten.

Dafür hat US-Präsident Donald Trump der britischen Regierung den angeblich besten Handelsdeal aller Zeiten angeboten. Doch auch hier hat Johnson auf Sand gebaut. Ab dem 20. Januar ist Trump weg vom Fenster. Mit Joe Biden kommt ein irischstämmiger Internationalist ans Ruder, der Johnsons mutwillige Verletzung des Völkerrechts und des nordirischen Friedensabkommens von 1998 nicht vergessen wird. Die USA haben andere Sorgen, als Britannien aus der Patsche zu helfen.

Für das globale Britannien werden Abkommen mit Japan und den Färöern nicht ausreichen. Johnson bleibt trotzdem optimistisch. In der Innenpolitik soll er jetzt freie Hand bekommen. Der Bau einer Schnellbahnverbindung nach Leeds und Manchester soll in Nordengland Arbeitsplätze und blühende Landschaften schaffen. Die Strecke wird vorerst aber nur von London bis Birmingham in Mittelengland reichen. Um Details hat sich Johnson nie gekümmert. Er spricht zwar gerne von einem Green New Deal, hat aber für neue Straßenbauprojekte 28 Milliarden Pfund eingeplant, was für ein weiteres Anschwellen des Autoverkehrs anstatt der fälligen Verbesserung des öffentlichen, umweltfreundlichen Nahverkehrs spricht.

Der gegenwärtige Zustand der oppositionellen Labourpartei bietet dem Premier etwas Trost. War es notwendig, den früheren Parteichef Jeremy Corbyn wegen relativ kleiner Differenzen im Kampf gegen Antisemitismus erst aus der Partei rauszuwerfen, dann wieder reinzulassen, aber nicht wieder in die Unterhausfraktion? Hier ist allein aus logischen Gesichtspunkten vieles falsch gelaufen. Die Entscheidung von Labour, im Parlament für Johnsons halbgaren Deal ohne genaue Prüfung zu stimmen, wirkt auch nicht wie der Weisheit letzter Schluss. Denn jetzt kann die Tory-Presse der Oppositionspartei beim Aufzeigen der Fehler im Abkommen hämisch vorwerfen: Ihr habt ja dafür gestimmt.

Das wohl größte Problem steht den Tories im Mai bevor. Dann wird in Schottland das Regionalparlament gewählt. Die seit 2007 regierenden Schottischen Nationalisten unter der Ersten Ministerin Nicola Sturgeon sind im Aufwind. Sie verlangen nach einem Wahlsieg eine weitere Volksabstimmung zur Abtrennung von England mit dem Hinweis, Schottland habe nicht für den Brexit gestimmt. Umfragen sagen zurzeit eine Mehrheit von 58 Prozent für die endgültige Trennung voraus. Wenn Johnson sich gegen die Volksabstimmung stemmt, erhöht dies nur die Zahl der Unabhängigkeitsbefürworter. Wenn er sie erlaubt, riskiert der Premier die Zerschlagung Britanniens.

Auch die Bevölkerung in Nordirland hat mehrheitlich gegen den Brexit gestimmt. Johnsons EU-Deal lässt die Provinz bei Handelsfragen in einem Zwitterzustand und bringt eine Vereinigung mit dem EU-Mitglied Irland im Süden auf die Tagesordnung.

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