Die Mutter der Welt: UdSSR (Vater: USA)

Auf geht’s in die Apokalypse: Der Essayband «The Psychic Soviet» des US-Indiemusikers Ian Svenonius

  • Robert Best
  • Lesedauer: 4 Min.

Was für ein Name, was für ein Lied: «Unpronounceable Name». Dieses Lied von 2009 kennt nicht mal Youtube. Es ist von der Band Chain and The Gang, in der Ian Svenonius singt. Er ist der Mann mit dem «unaussprechbaren Namen», und das Lied fasst nahezu perfekt sein etwa drei Dekaden, Sparten und Genres umspannendes Werk zusammen: seinen Hitriecher und seinen Humor, bierernste Background-«Hey»s und eine Killer-Bassline, sechs perfekt gesetzte Stakkato-Töne.

Chain and the Gang ist ein weiteres Projekt in der Welt von Svenonius, die aus Punk, Soul und Rock ’n’ Roll besteht. All seine künstlerischen Unternehmungen begann er Ende der 80er Jahre in Washington D. C. mit der Band Nation of Ulysses. Es folgten die Bands Make-Up, Weird War und Escape-Ism, mit denen er sich über die Jahrzehnte eine globale Fangemeinde erspielte, die er vergangenes Jahr mit dem Protodiscoprojekt Too Much erfolgreich vor den Kopf stieß.

Futter für Fans gibt es bei ihm eigentlich immer. 2006 veröffentlichte er bei Drag City Press in Chicago den Essayband «The Psychic Soviet», der nun bei Akashic Books in einer minimal erweiterten, problemlos aus New York zu bestellenden Neuausgabe erschienen ist. Beide Ausgaben sind unverdrossen dem M-26-7 gewidmet, der Bewegung des 26. Juli, die mit Fidel Castro in Kuba die Revolution errang.

Der Musiker und Sänger Svenonius hat zu popkulturellen und politischen Themen plausibel klingende, originelle Thesen parat, die er im Verlauf eines Aufsatzes herzerfrischend unerschrocken aufs Glatteis steuert. Der erste Essay handelt von einer Weltgemeinde, in der die untergegangene Sowjetunion als ideelle Mutter fungiert - die USA sind der Vater. Wer so eine Idee hat, muss sie auch elaborieren.

An ihr bemisst sich für Svenonius auch die dramatische Bedeutung des «strangely underplayed super-event known as ›The Socialist Collapse‹» - des seltsam unterschätzten Superereignisses, das als «Der sozialistische Zusammenbruch» bekannt ist. Hieraus - Stichwort «Post-Soviet Depression - leitet Svenonius eine Reihe von Erscheinungen ab, die sich schnurgerade in unsere Gegenwart verlängern lassen. Darunter fällt ein geschichtlich neuer Menschheitsfatalismus: »Der Idealismus, der den Homo sapiens einst auszeichnete, scheint verschwunden zu sein ... jetzt starrt er hohl in den Abgrund. Unterdessen wird die Welt von ihrem verwirrtesten Element Richtung Apokalypse gesteuert.«

Die USA charakterisiert Svenonius als »the USSR’s malfunctioning, off-balance - albeit victorious - arch-nemesis«. Das ist heute so treffend wie nie: der dysfunktionale, gleichgewichtsgestörte - obwohl siegreiche - Erzfeind der UdSSR. Den US-amerikanischen »Krieg gegen den Terror«, die dazugehörigen Invasionen und Folterkammern nennt Svenonius »groteske Ejakulationen« der verbleibenden Supermacht. Weil mit der UdSSR das weibliche Gegenstück abhandengekommen ist? Ernsthaft?

Wer sich gern auf ein Brainstorming dieser Art einlässt, wird Freude haben an den anregenden, gern auch ungeordneten Ideen in diesem Buch. Weitere Themen: Vampirismus als Ideologie des Imperialismus. Zeit als Geld. Vereinnahmung von Kaffee und Wodka als Zeichen kultureller und geostrategischer US-Vorherrschaft. (Svenonius’ Text »The bloody Latte« kam immerhin zehn Jahre vor den Vorwürfen der »kulturellen Aneignung«).

Den berühmten Zweikampf Rolling Stones gegen Beatles begreift er als Stellvertreterkrieg zwischen Mao und Chruschtschow. Aber wer vertritt hier wen? Lesen Sie es nach auf Seite 57 und folgende. Rock ’n’ Roll ist für ihn eine Religion, die das Christentum sowohl beerbt hat als auch strukturell imitiert. Bob Dylans Revolution in der Folk Music mit der elektrischen Gitarre statt der Akkustik-Klampfe anno 1965 preist er als Großtat, aber auch - Svenonius ist Dialektiker -als »proxy struggle of market forces against latent Communist egaliatarinism« - als Stellvertreterkrieg der Marktkräfte gegen latenten kommunistischen Egalitarismus.

Inhaltlich ist der Mehrwert im Vergleich zur Buchversion von 2006 überschaubar. Auch äußerlich ähneln sich die Ausgaben. Beide sind DIN-A6-Bände im Westentaschenformat, als Gebrauchsliteratur ebenso wie als Fetisch ausgewiesen, Revoluzzerbibeln à la Mao und Gaddafi, nur nicht in rotes oder grünes, sondern in pinkes Plastik eingebunden. Das Bemerkenswerteste an der Neuauflage ist, dass es sie gibt.

Seit 2013 veröffentlicht Svenonius Bücher bei Akashic. Darunter ist der Titel »Censorship now!«, eine Abrechnung mit der Beliebigkeit des Einheitsgequatsches, das unter der Flagge von Meinungsfreiheit und -vielfalt alle Meinungen gleich bewertet, was naturgemäß den herrschenden Klassen und Ideen dient.

Nebelkerzen in den neoliberalen Diskurs wirft Svenonius auch mit seinen Songtexten und -titeln. Das großartige erste Album von Chain and the Gang heißt »Down with Liberty ... up with Chains!« (Nieder mit der Freiheit, die Ketten leben hoch!) Diese nicht unpathetische Antihaltung ist in »Psychic Soviet« gottlob noch weniger ausgeprägt.

Es gibt ja nichts Schlimmeres als sogenannte Querdenker, weil sich diese Leute obsessiv an herrschenden Diskursen festbeißen und sich dafür von ihren Verlagen feiern lassen - lange bevor unter diesem Label obskure Demonstrationen organisiert wurden.

Zu den Schönheiten von »The Psychic Soviet« zählt dagegen, diskursive Leitplanken links und rechts liegen und die Gedanken wandern, wenn nicht sogar fliegen zu lassen.

Ian F. Svenonius: The Psychic Soviet. Akashic Books, 270 S., br., 15,99 €.

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