Neu in der Stadt

Sonntagmorgen: Berlin ist nichts für Anfänger*innen. In der Hauptstadt lauern Müllratten, Regaldiebe - und eine ganz besonders perfide Art von Herzlichkeit.

  • Heiko Werning
  • Lesedauer: 3 Min.

Die Tochter einer alten Freundin aus der Heimat ist nach Berlin gezogen. Die Sache mit der Wohnung gestaltete sich am Anfang erwartungsgemäß zäh. »Hat sich schon was ergeben?«, fragte ich sie am Telefon. »Allerdings! Ich habe schon zwei Dickpics zugeschickt bekommen, und einer bietet mir ein Zimmer zur Untermiete in Spandau, wenn ich dafür einmal die Woche mit ihm schlafe.« »Im Ernst?« »Ja, wirklich. Aber als ich gesagt habe, dass der Hund es gewöhnt ist, im Zimmer dabei zu sein, wenn ich Sex habe, wollte er dann doch nicht.« »Na ja, dass es mit Haustier schwieriger ist, hatte ich dir ja gleich gesagt.«

Dann hat es aber doch geklappt. Sie schien allerdings Akklimatisierungsprobleme zu haben. »Warum hast du mir nicht gesagt, dass man die Müllcontainer hier nur von der Seite öffnen darf?«, fragte sie anklagend. »Wieso das denn?« »Weil einen sonst die Ratte anspringt, die da drinsitzt!« »Vielleicht müsst ihr darauf achten, dass genug Müll im Hof herumliegt. Dann müssen die Ratten nicht extra in die Container.« »Na ja, egal«, sagte sie, »ich öffne die Container jetzt halt von der Seite. Geht ja auch.« Vielleicht wird es ja was mit ihr hier.

Vielleicht aber auch nicht. Beim nächsten Anruf bebte ihre Stimme vor Empörung: »Sie haben mein Regal geklaut!« »Stand was Wichtiges drin?« »Nein, da stand überhaupt nichts drin.« »Sie brechen bei dir ein und klauen nur dein Regal?« »Die sind doch nicht bei mir eingebrochen! Ich habe mir ein Regal gekauft und es dann kurz auf dem Nettelbeckplatz stehen lassen, weil ich schnell noch was aus dem Späti holen wollte. Als ich zurückkam, war es weg.« »Du hast dein Regal einfach so auf dem Nettelbeckplatz stehen lassen?« Große Güte, dachte ich, es ist doch ein weiter Weg von Westfalen in den Wedding. Sie haderte noch mit ihrem Schicksal: »Wer klaut einem denn mitten in der Stadt ein Regal? Manchmal fängt Berlin mir jetzt schon an, auf die Nerven zu gehen!«

Ein paar Tage später rief sie wieder an. »Es ist wieder da!«, jubelte sie. »Was?«, fragte ich erstaunt, »das Regal?« »Ja! Sie haben es einfach wieder dahingestellt. Wo sie es mir geklaut hatten.« Ich gebe zu, damit hätte ich nicht gerechnet. »Sie haben einen Zettel dran gehängt. Passt nicht zu unserer Kommode, stand da drauf. Ist das nicht irre?« Sie klang hellauf begeistert: »Eigentlich ist es doch eine ziemlich coole Stadt. Ich meine, in Münster hätten sie mir das Regal wahrscheinlich gar nicht erst geklaut. Aber ganz sicher hätte niemand es wieder zurück auf die Straße gestellt, wenn er es doch nicht brauchen könnte. Ist doch irgendwie ... herzlich.« »Ja«, bestätigte ich, »auf eine besondere Weise.« »Ja, wirklich«, sagte sie, »und für die Ratten habe ich jetzt einfach ein kleines Futterschälchen neben die Müllcontainer gestellt. Dann müssen sie da nicht mehr rein, und ich kann meinen Müll gefahrlos einwerfen.« Mir wurde ganz warm ums Herz. Ich denke, sie kann es hier schaffen.

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