Kitas stoßen an ihre Grenzen

Erziehergewerkschaft GEW fordert klare Regeln für die Notbetreuung

  • Rainer Rutz
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Berliner Erzieherinnen und Erzieher sind stinksauer«, sagt Doreen Siebernik. Die Landesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) ist auch selbst geladen: »Alle reden von den Schulen im harten Lockdown, aber niemand spricht über die Situation an den Kitas«, so Siebernik. Um auf deren Situation aufmerksam zu machen und dabei den Druck auf Jugend- und Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) zu erhöhen, hat die GEW nun einen »Brandbrief« aufgesetzt. Hauptforderung ist: Klare Regeln, welche Kinder Anspruch auf eine Notbetreuung in den Kitas haben und welche nicht.

Nach wie vor können in Berlin Eltern ihre Kinder in die Kitas bringen, sofern sie das wünschen. Zwar ist die Offenhaltung der Kitas mit der besonderen Aufforderung der Senatsjugendverwaltung an die Eltern verbunden, das Notfallprogramm nur in Anspruch zu nehmen, wenn der Bedarf »tatsächlich außerordentlich und dringlich ist«. Ob dem so ist, obliegt der Einschätzung der Eltern.

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Genau das will die GEW ändern. Es gehe nicht an, »dass sich Frau Scheeres in der Frage aus der Verantwortung stiehlt«, findet Gewerkschafterin Siebernik. Denn so einfach, wie sich die Senatorin das vorstelle, laufe es eben häufig nicht. Manche Kitas seien schon jetzt viel zu voll, wobei der Spagat zwischen dem Wunsch, kein Kind abweisen zu müssen, und der Furcht, sich in den Einrichtungen anzustecken, bei den Erzieherinnen und Erziehern für eine »enorme emotionale Überforderung« sorge, so Siebernik. Daher brauche es striktere Bestimmungen seitens der Jugendverwaltung, der man den Brandbrief am Freitag zusammen mit einer schon jetzt mehr als 10 000 Namen umfassenden Unterstützerliste dann auch zukommen lassen will.

Dort sieht man die Sache gelassener. Internen Erhebungen zufolge seien die Kitas aktuell im Schnitt zu rund 30 Prozent ausgelastet, heißt es auf nd-Anfrage. »Wir kriegen schon mit, dass es in Einzelfällen zu Konflikten zwischen den Einrichtungen und Eltern kommt. Insgesamt ist unser Zwischenfazit zu dem bisherigen Vorgehen aber positiv«, sagt Sprecherin Iris Brennberger. Anders als die GEW könne sie momentan keinen verstärkten Wunsch erkennen, die seit Mitte Dezember geltende Individual- durch eine Pauschallösung zu ersetzen. »Natürlich werden wir die Entwicklung aber weiter beobachten.«

Inzwischen hat sich die Gewerkschaft Verdi der GEW-Kritik angeschlossen. »Wir erwarten, dass der Senat endlich Klarheit schafft, welche Regelung in Berlin gültig ist: Notversorgung für außerordentlich dringliche Fälle, systemrelevante Berufe oder Zwei-Drittel-Auslastung. Der Senat muss sich entscheiden. Das ist er Kindern, Eltern und Erzieher*innen schuldig«, sagte Andrea Kühnemann, stellvertretende Landesbezirksleiterin von Verdi Berlin-Brandenburg am Mittwoch.

Allerdings ist auch der Landeselternausschuss Kita wie die Jugendverwaltung von der Idee einer Betreuung nach von oben verordneten Kriterien wenig begeistert. »Das wäre sehr unfair, wenn sich die frühkindliche Bildung der Kinder am Beruf der Eltern festmacht«, sagt Vorsitzende Corinna Balkow dem »nd«. Denn wie im ersten Lockdown im Frühjahr 2020 würden die Auswahlkriterien der Einfachheit halber wahrscheinlich eben darauf hinauslaufen. »Wir sind davon überzeugt, dass es wichtig ist, dass die Kitas vom Prinzip her weiterhin von allen Kindern besucht werden können.« Sollten die Kitas demnächst tatsächlich wieder rappelvoll werden, plädiert Balkow dafür, »eher bei den Betreuungszeiten Einschränkungen vorzunehmen«.

Ein Vorschlag dieser Art liegt bereits auf dem Tisch. Jüngst hatten die in der Liga der Freien Wohlfahrtspflege (Liga) zusammengeschlossenen Verbände und der kleinere Dachverband der Berliner Kinder- und Schülerläden (DaKS) den Senat aufgefordert, die rechtlichen Rahmenbedingungen für ein Abspecken des Betreuungsumfangs zu schaffen. So könnten auch weiter alle Kinder, deren Eltern dies wollen, die Kitas besuchen - in reduziertem Umfang und nur tage- oder wochenweise. Wichtig seien stabile Kleingruppen. »Die Organisation sollte dabei den jeweiligen Kitas vor Ort überlassen werden, weil die am Ende am besten einschätzen können, was die Familien brauchen«, sagt Dorothee Thielen, Referentin für Kindertagesstätten beim Paritätischen Wohlfahrtsverband Berlin, Mitglied der Liga. Lange werde es ohnehin nicht weitergehen wie bisher, so Thielen. »In den vergangenen vier Wochen hat der Appell an die Eltern gut gefruchtet, aber die waren auch von Feiertagen unterbrochen. Aber wir spüren in unseren Kitas von Tag zu Tag eine immer stärkere Inanspruchnahme.«

Zumindest an diesem Punkt geht sogar Gewerkschafterin Doreen Siebernik mit: »Das geht ja jetzt erst los, dass vermehrt Betreuungsbedarfe aufploppen«, sagt sie. Auch deshalb solle Senatorin Scheeres nicht beobachten, sondern rasch handeln.

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