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  • Deutsch-russische Beziehungen

Sympathie und Enttäuschung

Der Literaturwissenschaftler Carsten Gansel hat ein ein eindrückliches Panorama deutsch-russischer Beziehungen versammelt - nicht nur, aber auch der schriftstellerischen.

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 6 Min.

Es ist eine alte Geschichte, ein unauflöslicher Zusammenhang. Abgesehen davon, dass die Urheimat der Indoeuropäer sich aller Wahrscheinlichkeit nach in den Steppen zwischen Wolga und Don befand, von wo aus die Viehnomaden nach Osten, aber auch nach Westen zogen, und dass sich Menschen begegneten, die sich noch gar nicht als »Deutsche« oder »Russen« verstanden, politische Beziehungen sind früh verbucht. Beginnend mit dem Ostfränkischen Reich, das sich unter den Ottonen zum Heiligen Römischen Reich entwickelte, hat es in Abständen Bündnisse gegeben, mit der Kiewer Rus, später mit dem Großfürstentum Moskau - zu ökonomischem Nutzen und gegen andere Mächte. Lang ist die Liste dynastischer Verbindungen. Ob immer zu ihrer Freude, die Töchter der Herrschaftshäuser wurden gern untereinander verheiratet.

Das deutsche Gesicht des russischen Staates

Da war Prinzessin Sophie Auguste Friederike von Anhalt-Zerbst 1744 nicht die erste und nicht die letzte, aber als Katharina II. - »die Große« - wohl die berühmteste. Denn sie hat die Weichen für die Geschichte der Russlanddeutschen gestellt. 1763 unterschrieb sie ihr »Einladungsmanifest«, um deutsche Siedler nach Russland zu holen, lockte sie mit Befreiung vom Militärdienst, Selbstverwaltung, Steuervergünstigungen, finanziellen Starthilfen, 30 Hektar Land pro Kolonistenfamilie, mit Sprach- und mit Religionsfreiheit. Ihr Ziel: Ankurbeln des Bevölkerungswachstums, Besiedelung des »wilden Feldes« und nicht zuletzt Stärkung ihrer Macht. Schon in den ersten fünf Jahren nach dem Manifest kamen über 30 000 Deutsche nach Russland; viele brachten es zu Wohlstand. Mitte des 19. Jahrhunderts waren es schon über eine halbe Million.

Doch schon vor Katharina hatte der russische Staat in seiner Modernisierungsphase des 18. Jahrhunderts allmählich ein recht deutsches Gesicht gewonnen. 1702 hatte der gleichfalls als »der Große« in die Annalen eingegangene Zar Peter I. durch sein »Berufungsmanifest« deutsche Gelehrte und Spezialisten verschiedenster Disziplinen ins Land geholt. Ende des 19. Jahrhunderts waren 40 Prozent aller höheren Befehlsposten in der Armee, 62 Prozent der Stellen im Ministerium für Post und Verkehr, 57 Prozent der Stellen im Außenministerium und 46 Prozent der Stellen im Kriegsministerium von Deutschen besetzt, schreibt Carsten Gansel in seinem Nachwort zu dem Roman »Wir selbst« von Gerhard Sawatzky. Die 200 Seiten waren in dem nunmehr von Gansel herausgegebenen Band »Deutschland Russland« in Gänze nicht unterzubringen - und doch sind seine Ausführungen zur Neuedition dieses Standardwerkes über die wolgadeutsche Republik als Herzstück der Sammlung zu bezeichnen, flankiert durch die Beiträge von Tatiana Yudina über russlanddeutsche Intellektuelle zwischen 1917 und 1941 und von Elena Seifert über russlanddeutsche Literatur und Gulag-Erfahrungen.

Auf über 600 Seiten sind 17 analytische Aufsätze, ein Erfahrungsbericht von Joochen Laabs über seine Annäherungen an sowjetische Literatur und fünf Interviews zu lesen, unter anderem mit den Schriftstellerinnen Irina Liebmann, Gusel Jachina und mit der Historikerin Waltraut Schälike, die von deutschen Emigrantenschicksalen in Moskau erzählt. Jürgen Lehmann gibt einen Überblick über zwei Jahrhunderte Rezeptionsgeschichte russischer Literatur in Deutschland. Heinrich Kaulen schreibt über die Reise Walter Benjamins ins Land der Oktoberrevolution, die für sein »Moskauer Tagebuch« die Grundlage war. Andreas Degen folgt den ersten Reisen bundesdeutscher Autoren nach Moskau, beispielsweise von Hans Henny Jahnn, Wolfgang Koeppen und Leo Weismantel. Matthias H. Lorenz untersucht die Erzählstrategien deutschsprachiger Autorinnen und Autoren zum Sujet der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. Eva Hausbacher schreibt über Katja Petrowskaja, Julia Kissina, Olga Martynowa, Lena Gorelik und andere Autorinnen, die aus Russland nach Deutschland kamen ...

Es sind dies literaturwissenschaftliche Texte, denen man anmerkt, dass sie auf umfassenden Studien beruhen und womöglich mühsam in eine knappe Form zu bringen waren. Arbeitsmäßig womöglich kaum zu bewältigen wäre die Erstellung eines gemeinsamen Personenregisters gewesen, das dieses Buch als Nachschlagewerk doch erheblich praktikabler gemacht hätte. Darin hätte sich zum Beispiel auch der Schriftsteller Essad Bey gefunden, von dem ich bis dahin noch nie gehört hatte. Unter der Überschrift »Eskapismus in den Abgrund« schreibt Werner Nell über Ilja Ehrenburg und auch über ihn, der als Lew Nussimbaum 1905 in Baku geboren wurde, nachdem die Familie vor den Bolschewiki geflohen war, in Deutschland lebte, zum Islam übertrat, seine Sympathien für Mussolini nicht verhehlte, sich aber wegen seiner jüdischen Herkunft letztlich dem NS-Regime nicht andienen konnte. Viele solcher Einzelheiten stecken im Buch und wollen aufmerksame Lektüre.

Deutsche Emigranten in der Sowjetunion und ihre Arbeit für den Rundfunk (Hans Sarkowicz), die Gründung des Bundes Deutscher Offiziere und der Widerstand gegen Hitler in der Kriegsgefangenschaft im Zusammenhang mit Heinrich Gerlachs Roman »Odyssee in Rot« (Carsten Gansel) - teils unbekannte geschichtliche Zusammenhänge offenbaren sich bis hin zur Zusammenarbeit zwischen MfS und KGB auf der »Linie Schriftsteller« (Matthias Braun). Da ist zunächst Grundsätzliches zur engen Kooperation beider Dienste zu lesen, ehe es insbesondere um die Überwachung von Lew Kopelew, Bulat Okudshawa sowie von Mitarbeitern der Auslandsabteilung des sowjetischen Schriftstellerverbandes geht, wozu auch Kräfte aus dem DDR-Kulturbetrieb beitragen sollten. Alle Genannten sind inzwischen tot.

Die engen Verbindungen beider Schriftstellerverbände gibt es nicht mehr, ja diese Organisationen selbst sind lange zugrunde gegangen. Die Voraussetzungen, russische Literatur kennenzulernen, sind aber allein schon deshalb geschrumpft, weil man Russischkundige in deutschen Verlagen heute schon an zwei Händen abzählen kann - oder eher an einer Hand? Die slawistischen Institute an ostdeutschen Universitäten wurden erheblich verkleinert oder ganz geschlossen. Indem man west- und südslawischen Sprachen zu ihrem Recht verhelfen wollte, wurde das Russische zurückgedrängt. Das, irgendwann wird es womöglich sogar vergessen sein, in DDR-Schulen ein Pflichtfach gewesen ist.

Und viele sprachkundige Spezialisten wurden nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik nicht mehr gebraucht, weil es nun andere Prämissen gab, nicht nur in der Politik, sondern auch in der kulturellen Orientierung. Der Herausgeber, 1955 in Güstrow geboren, 1981 ebendort promoviert und über Nachwendestationen in Greifswald, Bielefeld und Frankfurt am Main 1995 auf einen Literaturlehrstuhl in Gießen berufen, ist die Ausnahme, die die Regel bestätigt. Ansonsten traf der Kahlschlag im Verein mit Tausenden Wissenschaftlern etwa auch den Slawistikprofessor Anton Hiersche, der im vorliegenden Band DDR-Geschichte auf persönliche Weise und mit dermaßen vielen Einzelheiten in Zusammenhang mit sowjetischen Büchern bringt, dass allein schon sein 70-seitiges Gespräch mit Gansel es wert ist, sich dieses dicke Buch nicht nur ins Regal zu stellen, sondern es auch zu studieren.

Teil von Europas Kultur, aber Antagonist des Westens

Auch sonst ist der von Gansel zusammengestellte Band nicht zuletzt auch in denjenigen Beiträgen interessant und stark, die der »literarischen Beziehungsgeschichte« zwischen Deutschland und Russland einen politischen und gesellschaftlichen Rahmen geben. Das gilt besonders auch für die »Überlegungen zur Reform des Petersburger Dialogs« von Hauke Ritz, der sich pointiert mit der sogenannten »werteorientierten« Außenpolitik der Bundesrepublik auseinandersetzt. Die klassische Diplomatie war vom Prinzip staatlicher Souveränität in den internationalen Beziehungen ausgegangen. Dagegen habe die Schwächung etablierter Regierungsstrukturen schon viele Länder ins Chaos gestürzt. Ist es nicht Ausdruck einer kolonialen Mentalität, ein angeblich alternativloses westliches Zivilisationsmodell exportieren zu wollen? Werden nicht gerade dadurch die Werte der europäischen Zivilisation beschädigt und Chancen für ein gedeihliches Miteinander verspielt, insbesondere auch was Russland betrifft?

»Die doppelte Identität Russlands, nämlich sowohl Vertreter der europäischen Kultur als auch Antagonist des Westens zu sein«, könne von großer Bedeutung sein im derzeitigen »geopolitischen Gezeitenwechsel«, vor dem viele bislang die Augen verschließen. Noch gibt es in Russland eine seltsamerweise tief sitzende Sympathie gerade für die Deutschen, den zwei brutalen Kriegen des 20. Jahrhunderts wie zum Trotz. Doch könnte diese Zuneigung in Enttäuschung umschlagen, zumal sich im Osten längst andere Machtallianzen gebildet haben.

Carsten Gansel (Hg.): Deutschland Russland. Topographien einer literarischen Beziehungsgeschichte. Verbrecher Verlag. 613 S., geb., 39 €.

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