Ohne Publikum

Christian Zürner deutet Kunst aus ihrer Funktion bei Feiern und übersieht dabei die Feiernden

  • Stefan Ripplinger
  • Lesedauer: 4 Min.

Das nennt man »schlechtes Timing«: Christian Zürner, ein Jazz-Bassist und Professor für Kulturarbeit, erklärt in seiner Ästhetik die Kunst aus ihrer Verbindung mit Fest und Feier. Doch just, als sein Buch herauskommt, sind sämtliche Feste und Feiern abgesagt. Obwohl Zürner Kunst für existenziell notwendig hält, will die Mehrheit der Deutschen nicht nur auf Oktoberfest und Karneval, sondern auch auf Ausstellung, Kino, Konzert und Theater verzichten. Corona wirft so eine Frage auf, die der Autor noch nicht stellen konnte: Kann Kunst ganz ohne Versammlung gedeihen? Muss sie in der Isolation austrocknen? Oder genügt ihr Konserve und »Zoom«?

Um diese Fragen zu beantworten, muss geklärt werden, wie eng der Zusammenhang von Kunst mit kultischen, also rituell ablaufenden Festen überhaupt noch ist. Denn dass Kunst von Kult kommt, bestreitet kaum jemand. Schon in seinem Titel nennt Zürner die Funktion der Kunst bei feierlichen Zusammenkünften - das kann bei ihm schon eine Laienaufführung im Nachbarschaftsheim sein - ein »Ästhetisches Sorgen«, was an Martin Heidegger erinnert. Doch sein Titel könnte ebenso gut »Ästhetisches Herstellen« lauten, denn die Philosophin Hannah Arendt ist Zürner ungleich wichtiger als ihr Lehrer.

In ihrer »Vita activa« (1958) unterscheidet Arendt drei Tätigkeiten: Arbeiten, Handeln und Herstellen. Dabei zielt allein das Herstellen auf die »Dauerhaftigkeit der Welt« ab. Hergestellt werden sollen bei Zürner nicht nur greifbare Kunstwerke - für Arendt die »beständigsten und darum die weltlichsten aller Dinge« -, sondern auch ein Verhältnis zur Welt. Auf ihre ganz eigene Weise trage Kunst dazu bei, das Leben zu feiern, sich der eigenen Existenz zu vergewissern, Gefahr zu bannen. Das erinnert an die Funktion, die der Dichter und Ethnologe Franz Baermann Steiner der Religion unterstellte: Sie verbinde eine Gruppe in der magischen Abwehr von Gefahr.

Weil er zeitgemäß bleiben will, muss Zürner seine Kunst von der Religion trennen. Kunst brauche keine Transzendenz, sei durchaus rational - aber nicht, weil sie der Erkenntnis, sondern weil sie einem Zweck diene, eben der Sorge des Menschen um sich und seine Welt. Kunst sei mehr als das interesselose Spiel, von dem Kant und Schiller sprachen. In einem fensterlosen Expresszug befördert uns der Ästhetiker aus verspielter Aufklärung und kunstreligiöser Romantik in die nüchterne Gegenwart, ohne die Gesellschaft, die die Lokomotive dieses Zuges ist, zu bedenken. Nur nebenbei gesteht er ein, dass, wer Kunst gebrauche, sie schöpferisch mitvollziehe. Er übersieht, dass sich Kunst gerade deshalb nicht gleich bleiben kann. Wenn sie an Praxis, wenn sie ans Herstellen gebunden ist, verändert sie sich doch mit ihnen. Hergestellt wird heute anders als früher, Menschen verhalten sich oben anders als unten. Früh haben Georg Simmel und Max Weber die fortschreitende Versachlichung und Rationalisierung registriert; nicht erst Corona ließ Feiern als unvernünftig erscheinen.

Feiern unterbricht den sachlichen Gleichlauf auf bedeutsame Weise - Zürners Theorie lässt sich auf Konzert, Theater, Performance, Kino, selbst auf Museen wunderbar anwenden. Aber es könnte sein, dass diese Unterbrechung inzwischen als irrational, störend, veraltet gilt. Schon in der Literatur hat nur mehr die Lyrik etwas Feierliches, Beschwörendes. Ganz problematisch wird es im »Homeoffice«. Es mag uns aus unserem Trott reißen, betrachten wir das Bild an unserer Wand. Aber wenn Zürner selbst das Musikhören beim Putzen zur »feierlichen ästhetischen Affirmation von Kräften« hochjubelt, sieht man nur noch den Professor vor sich, wie er unter den Klängen einer Bach-Kantate sein Bad schrubbt. Der Nachklang des Festes ist kein Fest mehr.

Zürner ist nicht angenehm zu lesen; er spricht von »Vollzugsformen der Kunst«, als ob sie im Zuchthaus säße. Nicht genug zu preisen ist aber, dass ihm Dünkel völlig fremd ist. Seine Neugier richtet sich gleichermaßen auf bescheidene Feten und prächtige Bälle, auf Familienfotos und berühmte Gemälde und eher auf »Splatter-Movies« als auf die Filmmatinee. Trotz seiner Idealisierung gelingt es ihm, Kunst auf unseren Alltag zu beziehen, ohne sie darin aufgehen zu lassen. Er führt vor Augen, dass sie, jedenfalls bis vor Kurzem, mehr war als ein verblassender Dekor.

Christian Zürner: Ästhetisches Sorgen. Eine Theorie der Kunst. Transcript 2020, 179 S., br., 39 €.

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