nd-aktuell.de / 19.01.2021 / Kultur / Seite 13

Unter der Beobachtung von Kuscheltieren

Ist das die Zukunft der Kommunikation? Der Roman »Hundert Augen« von Samanta Schweblin

Florian Schmid

Was wird nach Chats, sozialen Netzwerken und Dating-Apps wohl die nächste digitale Tech-Option sein, mit der Menschen regional oder global neuartige soziale Kontakte zueinander knüpfen? Eine faszinierende, fiktionale Antwort auf diese Frage bietet der Roman »Hundert Augen«, das neue Buch von Samanta Schweblin.

Die in Berlin lebende argentinische Schriftstellerin entwirft eine Welt in naher Zukunft, in der künstliche Haustiere die Menschen unterhalten sollen. Es sind dies kleine Plüschtiere, sogenannte Kentukis, die mit Kamera und Mikrofon ausgerüstet sind. Man kann sie kaufen und mit nach Hause nehmen. Doch sie werden von einer anderen, anonym bleibenden Person, die irgendwo auf der Welt lebt, per Tablet gesteuert. Die kann nun alles beobachten und sich mit einem Quieken bemerkbar machen.

Wer mit wem als Kentuki zusammenlebt, wird per Zufall beim Kauf mit der Einwahl in den Kentuki-Zentralserver zugewiesen. Während die Käufer der Tiere sich bewusst für ein Kaninchen, einen Panda, eine Krähe oder einen Drachen entscheiden, stellen die steuernden Personen, nachdem sie sich angemeldet haben, überrascht fest, in welchem Tier sie stecken und wo sich dies befindet. Das dauert meistens eine gewisse Zeit. Dabei ist es sehr wichtig, auf den Akkustand zu achten. Denn wenn das Kentuki nicht rechtzeitig zu seiner Ladestation rollt, geht es aus - der Kontakt zum User ist nicht mehr herstellbar, und das Kentuki ist dauerhaft außer Funktion. Ein wenig dürfte das den einen oder anderen an die Tamagotchis der 90er Jahre erinnern.

So bekommt die in Peru lebende Mittsechzigerin Alina einen Kentuki-User-Account von ihrem in Hongkong als Banker arbeitenden Sohn geschenkt, um sich weniger einsam zu fühlen. Erst versteht sie das Prinzip gar nicht und weiß auch nicht, was sie damit anfangen soll. Bis sie auf dem Bildschirm durch eine Erfurter Wohnung läuft und bei Ausflügen einen Blick in die für sie so exotische mitteleuropäische Stadt werfen kann. Es dauert nicht lange und sie fühlt sich als enge Freundin der Frau, bei der ihr Kentuki lebt.

Marvin aus Guatemala wiederum, dessen Schulfreunde in irgendwelchen niedlichen Häschen oder Maulwürfen stecken, die auf ihren kleinen Rädern durch Häuser in Dubai und Trinidad rollen, stellt begeistert fest, dass er ein Drache ist. Davon träumen alle Jungs. Und außerdem lebt sein Kentuki in Norwegen, wo es sogar Schnee gibt. Durch den zu laufen oder zumindest als Kentuki zu rollen, ist sein innigster Wunsch.

Samanta Schweblin fächert in fast einem Dutzend voneinander unabhängigen Erzählsträngen die Geschichten der Kentukis und ihrer User auf, von einer Künstlerkolonie im mexikanischen Oaxaca über ein chinesisches Hochhaus bis in die italienische Provinz und nach Zagreb. Durch den Anthologiecharakter der Geschichten liest sich das ein wenig wie eine weitere, etwas komplexer aufgerollte Folge der Netflix-Serie »Black Mirror«, die fiktional die unmittelbare Zukunft der digitalen Untiefen unserer Zeit auslotet.

Das funktioniert als eine ganz besondere Art von Roman vor allem deshalb, weil Schweblins konzise und lakonische Sprache diese geografisch in alle Richtungen ausfransenden Handlungsstränge zu einem literarisch dichten, spannungsgeladenen Netz zusammenwebt. Denn nicht nur, dass die in Peru lebende Alina bald bemerkt, dass der Freund ihrer Herrin in Erfurt ein widerlicher Kerl ist. Er bestiehlt sie auch noch. Also versucht sie Kontakt aufzunehmen und fahndet nach einer Telefonnummer. Aber die Kontaktaufnahme geht schief.

Grigor aus Zagreb, der zahlreiche Kentukis zusammen mit User-Accounts sammelt und verhökert, wird plötzlich Zeuge einer Entführung und hilft, ein Mädchen in Brasilien zu befreien. Marvins Kentuki begegnet einem libertären Tech-Nerd, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, Kentukis zu befreien und mit Gadgets auszurüsten, sodass sie sich so bewegen können, wie ihre User das wollen.

Ein Kinderspielzeug sind die Kentukis auf keinen Fall. Mit der per Kauf und Klick hergestellten Nähe entsteht schnell auch Verantwortung. Insofern inszeniert dieser Roman auf sehr schlaue Weise ein immer wiederkehrendes Debattenthema unserer digitalen Zeit, in dem nach Art und Substanzialität des globalisierten sozialen Näherrückens gefragt wird. Die Kentukis lassen schon mal erahnen, wohin die technologische und soziale Entwicklung gehen könnte.

Samanta Schweblin: »Hundert Augen«, A. d. Span. v. Marianne Gareis. Suhrkamp, 252 S., geb., 22 €.