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Die Wirklichkeit hinter dem Augenlid

Arkadendämmerung: Eine beziehungsreiche Ausstellung der Hamburger Kunsthalle erkennt in Giorgio de Chirico den Propheten unserer pandemischen Gegenwart

  • Georg Leisten
  • Lesedauer: 5 Min.

Das ist kein Lockdown, das ist Nachmittag. Wenn die Welt des Südens sich zur Siesta in die gelben Häuser zurückgezogen hat und die Statuen auf den verlassenen Plätzen den Schatten beim Längerwerden zusehen. Immer wieder hat Giorgio de Chirico (1888-1978) solche Situationen gemalt. Für den Italiener mit griechischen Wurzeln verkörperte die im mediterranen Licht stillgestellte Stadt ein Reich des Übergangs. Die Stunde, da das Vertraute zum Rätsel wird. »Pittura metafisica«, »metaphysische Malerei« nannte der Dichter Guillaume Apollinaire diese Halbschlafbilder. Tatsächlich sind es Arrangements, in denen die Dinge ihren gewohnten Sinn verlieren und eine Bedeutung jenseits der Physik wie der Naturgesetze annehmen.

Dass de Chiricos damit die Tore zur modernen Illustration des Unbewussten aufstieß, weiß heute jeder Kunstfreund. Aber wer wies dem Vorläufer der Surrealisten selbst den Weg in den Tiefenraum der Seele? Dieser Frage geht eine beziehungsreich bestückte Ausstellung der Hamburger Kunsthalle nach, die sich weitgehend auf das Frühwerk des Malers konzentriert. Dabei gelingt es der Kuratorin Annabelle Görgen-Lammers jene unterschiedlichen Anregungssphären herauszuarbeiten, die schließlich in de Chiricos metaphysischem Kopfkino zusammenfließen.

Als kreative Startbahn erweisen sich die Jahre in München. Hier studierte de Chirico (ebenso wie sein Bruder Alberto Savinio) einige Semester an der Akademie, hier entdeckte er die fabulös verzauberte Kunst der deutschen Spätromantiker im Original. Ihr Symbolismus lehrte den jungen Maler, Unwirkliches wirklich aussehen zu lassen. Mit Vergleichswerken aus der eigenen Sammlung des 19. Jahrhunderts verdeutlichen die Hamburger de Chiricos deutsches Erbe.

Besonders Arnold Böcklins Nymphenspiele und Zentaurenkämpfe führen ihm vor, welche Kraft die altgriechischen Sagen auch in einer industrialisierten Welt noch besitzen. Mitgerissen von dieser dunklen Mythologie, malt der Student 1909 einen »Sterbenden Zentaur«. Doch selbst, als de Chirico längst dem Epigonentum der Anfänge entwachsen war, wirkt der Einfluss der Anfänge weiter. Direkt nach böcklinscher Vorlage entsteht 1922/24 ein »Selbstbildnis als Odysseus«.

Nördlich der Alpen könnte auch das wichtigste Motiv des Künstlers seinen Ursprung haben: die dunklen Arkadenreihen, die sich als Architekturelement durch das gesamte frühe Schaffen ziehen. Von der beklemmenden Bildbühne in »Die Freuden des Dichters« bis zum melancholischen »Lohn des Wahrsagers«. Bislang vermutete man die städtebaulichen Vorbilder dafür in Ferrara oder Turin. Doch auch die Bogengänge des Münchner Hofgartens, so legt es eine Fotografie im Hamburger Ausstellungskatalog nahe, könnten Modellgeber gewesen sein.

Am Ende freilich ist auch das nur Requisit für eine grandiose Alltagsverwandlung. Schon bevor die Psychoanalyse zur bevorzugten Theoriegöttin der surrealistischen Avantgarde wurde, hatte de Chirico bei dem deutschen Philosophen Friedrich Nietzsche lesen können, wie viel Verdrängtes, Unausgesprochenes der Mensch in seinem Inneren verschließt. Bei jenem gelben Buch, das vor dem somnambulen Mann im Gemälde »Das Gehirn des Kindes« (1914) auf dem Tisch liegt, handelt es sich nach Überzeugung der Forscher um eine französische Ausgabe von Nietzsches »Also sprach Zarathustra«.

Was hinter dem Augenlid passiert, holen de Chiricos Bildbühnen nach vorne. Dabei jedoch ist er alles andere als ein bequemer Eskapist, der sich aus der gesellschaftlichen Realität in ein psychedelisches Paralleluniversum hinausträumt. Spätestens mit der Einberufung in die italienische Armee hat die hartherzige Wirklichkeit den sensiblen Bohemien eingeholt. Sein Körper und sein Geist reagieren mit einem Nervenzusammenbruch, dem die Einweisung in die Militärpsychiatrie folgt. Seine Malerei aber bannt die erlittenen Schrecken in Chiffren von überhistorischer Geltung. So sind die toten Städte fortan auch ein Echo auf die Jahrhundertkatastrophe Erster Weltkrieg, die Schatten vielleicht Ausdruck der aufziehenden Menschheitsdämmerung. Ganz unverschlüsselt künden die Kanonen, die de Chirico zum Beispiel in »Der Lohn des Philosophen« auffährt, von Front und Tod.

Ungeachtet der antikisch statuesken Posen ist auch bei den Marionettengestalten der Krieg im Spiel. Erinnern die Gliedmaßen der Eierkopfpuppen doch oftmals an die hölzernen Prothesen verstümmelter Soldaten. Und als von 1918 bis 1920 schließlich die virale Gewalt der Spanischen Grippe mehr Massengräber füllt als das Gemetzel der alteuropäischen Nationalstaaten, sieht der Prophet der Entvölkerung seine inneren Visionen draußen auf den Straßen bestätigt. »Die Ausstellung«, sagte Kunsthallen-Chef Alexander Klar im Rahmen der Online-Eröffnung, »ist so ziemlich die zeitgemäßeste, die man heutzutage zeigen kann.« Genau das macht große Kunst aus: das Vermögen, sich selbst zu erneuern. Über hundert Jahre alte Bilder berühren den Betrachter des Jahres 2021 in seinem pandemischen Hier und Jetzt.

All die 60 in der Hansestadt versammelten Werke verstören umso nachhaltiger, als der Meistermetaphysiker zunächst mit italienischem Flair zu locken weiß. Quasi hinterrücks aber gleitet die Stille der dahindösenden Plätze in eine zweideutige Erwartungsspannung hinüber, wie man sie aus den Anfangssequenzen von Horrorfilmen kennt. Obschon die ausgestorbenen Architekturkulissen das Aktionsgeschehen auf ein Minimum reduzieren, lassen die verschiedenen Fluchtpunkte von de Chiricos Perspektivenkonstruktionen das Auge aufgeregt hin- und herspringen. In der Ruhe liegt die Unruhe, in der Ausgangssperre die Angst. Willkommen auf der Piazza Corona!

Bis 25. April, derzeit nur online.

www.hamburger-kunsthalle.de/ausstellungen/de-chirico

Rundgang zur Online-Eröffnung

www.youtube.com/watch?v=hQVWAL1DMss

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