Brexit verursacht wirtschaftliches Chaos

In Großbritannien spielt die Regierung von Boris Johnson die Folgen des EU-Austritts für Handel, Beschäftigte und Konsumenten herunter

  • Peter Stäuber, London
  • Lesedauer: 4 Min.

Das Geschäft von Ian Perkes ist praktisch über Nacht zum Erliegen gekommen. Der Fischer, der in der Kleinstadt Brixham an der englischen Südküste wohnt, hat seit Beginn des Jahres noch keinen einzigen Fisch über den Ärmelkanal geliefert. Der Grund ist offensichtlich: der Brexit, für den er selbst gestimmt hat. »Wenn ich die Uhr zurückdrehen könnte, würde ich dann noch mal ›Leave‹ wählen? Natürlich nicht!«, sagte er gegenüber der Publikation »Byline Times«. »Ich glaube, ich und viele andere haben einen Fehler gemacht.«

Nur wenige Wochen nachdem die britischen EU-Gegner ihre lang ersehnte Unabhängigkeit erreicht haben, herrscht bereits Katerstimmung. Die Brexit-Realität kommt für viele Branchen als ein Schock: Sie kämpfen mit immenser Bürokratie, mit Verzögerungen bei der Lieferung von Gütern, mit zusätzlichen Kosten. Gleichzeitig müssen britische Käufer, die online Produkte aus der EU bestellt haben, nun Einfuhrzölle bis zu 100 Pfund bezahlen. In der Provinz Nordirland haben stockende Lieferungen sogar dafür gesorgt, dass in den Supermärkten manche Frischwaren fehlten.

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Das Handels- und Kooperationsabkommen, also der Deal, den Boris Johnson im Dezember mit der EU geschlossen hat, sollte eigentlich garantieren, dass der Handel im Wesentlichen so weitergeht wie bisher. Am 24. Dezember hatte der Premierminister von den Tories noch damit geprahlt, dass keinerlei Einbrüche bei den Ausfuhren zu befürchten seien - im Gegenteil: Der Deal erlaube es »unseren Exportfirmen, noch mehr Geschäfte mit unseren EU-Partnern zu machen.«

Die Realität sieht jedoch ganz anders aus. Das Kleingedruckte im Vertrag sorgte zwar für wenig Schlagzeilen, aber die Konsequenzen sind jetzt umso deutlicher zu spüren. Zu den stark Betroffenen gehören ausgerechnet die britischen Fischer, die in großer Zahl enthusiastisch für den Brexit gestimmt hatten. Boris Johnson hatte ihnen ein »El Dorado« in Aussicht gestellt, weil den Fischern in den kommenden Jahren ein größerer Teil der Fangquoten in britischen Gewässern zugesprochen wird.

Aber bereits eine Woche nach Jahresbeginn meldeten Fischer, dass ihre Fänge auf den Booten verrotten, weil sie nicht exportiert werden können. Die Formulare, die ab dem 1. Januar ausgefüllt werden müssen, führen zu endlosen Verzögerungen bei der Lieferung. Die britischen Fischer verkaufen den größten Teil ihrer Produkte nach Belgien, Frankreich, Spanien und in andere EU-Länder - viele der Meerestiere, die sie fangen, zum Beispiel Tintenfische, werden von den Briten selbst kaum konsumiert. Doch heute sind die Produkte bereits verfault, wenn sie in der EU ankommen, berichtete Alistair Roberts vom Verband Clyde Fishermen‘s Association in einem TV-Interview. Vor dem Brexit hätten die Grenzformalitäten weniger als eine Stunde gedauert. Heute hingegen müssten die Lastwagen, voll gepackt mit frischem Fisch, bis zu fünf Stunden warten, bis sie in ein EU-Land hineingelassen werden. »Wir werden diese Märkte verlieren«, beklagte Roberts. Mehrere Branchenverbände haben die Regierung aufgefordert, dringend etwas zu unternehmen, um den hindernisfreien Handel wiederherzustellen.

Aber die Reaktionen aus London sind nicht eben ermutigend. Victoria Prentis, Ministerin für Fischerei, musste kürzlich eingestehen, dass sie das Abkommen vom Dezember vor dem Abschluss gar nicht gelesen hatte, weil sie mit der Vorbereitung ihrer Weihnachtsfeier beschäftigt war. Und der Tory-Abgeordnete Jacob Rees-Mogg, rechtskonservativer Multimillionär und Inbegriff der abgehobenen Westminster-Elite, wischte die Probleme auf seine Art beiseite: »Das Wichtigste ist, dass es jetzt britische Fische sind - es sind also bessere und glücklichere Fische«, meinte er schmunzelnd.

Auch andere Branchen, von Autoherstellern bis zu Textileinzelhändlern, stecken in ernsten Problemen wegen der zusätzlichen Grenzformulare, Gebühren und Kontrollen. Einige große Konzerne haben bereits vor Wochen angekündigt, wegen gestiegener Kosten für den Export die EU nicht mehr zu beliefern - etwa die Speditionsfirma DPD. Aber vornehmlich sind es die fast sechs Millionen kleinen und mittleren Unternehmen, denen die Brexit-Folgen zu schaffen machen.

Andrew Moss, Leiter einer Firma mit 37 Angestellten, die Werbekonzepte erarbeiten, sagte gegenüber dem »Guardian«, dass die vergangenen drei Wochen für sein Unternehmen ein Alptraum gewesen seien. Wenn er nun eine Lieferung in ein EU-Land schickt, muss der Empfänger rund 20 Prozent Mehrwertsteuer vorab bezahlen - und viele weigerten sich. Zeitweise hielt Moss die Situation für so ausweglos, dass er erwog, sein Geschäft ganz dicht zu machen. Jetzt wird er wohl eine Tochterfirma in der EU aufbauen, um die Extrakosten zu umgehen.

Schwierigkeiten gibt es auch in Nordirland, das im Gegensatz zum Rest des Landes im EU-Binnenmarkt für Waren verbleibt. Das heißt, dass es für Güter, die von Großbritannien nach Nordirland geschaffen werden, zusätzliche Auflagen gibt: etwa Zertifizierungen und zeitraubende Inspektionen bei Lebensmittelprodukten. Die Firma Health Made Easy, einer der wichtigsten Lieferanten von Bioprodukten im Land, sagt, dass es seit Anfang des Jahres »praktisch unmöglich ist«, Waren in großen Mengen nach Nordirland zu schaffen. Speditionsfirmen berichten, dass globale Marken sich aufgrund der höheren Kosten von Nordirland abwenden.

Die Regierung zeigt sich dennoch weiterhin nicht besonders besorgt über das Brexit-Chaos. Premierminister Johnson spielt die Probleme zu »teething problems« herunter - Kinderkrankheiten, die bald verschwinden würden.

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