Alles muss von unten verändert werden

Johanna Schellhagen über das unabhängige Filmprojekt labournet.tv und die politische Kraft von Bewegtbildern

  • Peter Nowak
  • Lesedauer: 4 Min.
Woher kam Ihr Interesse an den Kämpfen in der Arbeitswelt?

Ich habe 2001 beim G8 Gipfel in Genua gefilmt, und dann 2003 einen Film über ermordete Coca-Cola-Gewerkschafter*innen in Kolumbien gemacht. Beides waren ziemlich schockierende Erfahrungen, die weit von dem abwichen, was ich bis dato über die Welt gelernt hatte. Mir dämmerte, dass es wichtig ist, aus der Sicht der Unterdrückten zu berichten, vor allem wenn sie sich gegen ihre Ausbeutung zur Wehr setzen. Diese Position bleibt normalerweise fast völlig unsichtbar.

Johanna Schellhagen
Die Filmaktivistin lebt in Berlin und hat vor zehn Jahren die Videoplattform labournet.tv gegründet, in der Videos und Filme zu Arbeitskämpfen in aller Welt dokumentiert sind. Peter Nowak sprach mit ihr über das Jubiläum, die aktuellen Probleme der Plattform sowie eine Spendensammelkampagne zur Fortführung des Projekts. Unterstützen kann man labournet.tv ab dem 3. Februar über www.startnext.com/the-loud-spring.

Mit dem Film »Die Angst wegschmeißen« über die Logistikarbeiter*innen in Italien haben Sie einen bisher vergessenen Arbeitskampf bekannt gemacht. Wie kamen die Kontakte zustande?

Ich habe 2013 bei einem Treffen von europäischen Basisgewerkschaften Aktivist*innen aus Italien kennengelernt, die berichteten, dass gerade in vielen Warenlagern in der Po-Ebene gleichzeitig gestreikt würde. Dass viele Studierende und Aktivist*innen mit den Arbeiter*innen tatkräftig Seite an Seite kämpfen und regelmäßig von der Polizei verprügelt werden. Ein paar Wochen später sind wir nach Bologna gefahren und haben uns zehn Tage lang an die Fersen eines Delegierten der italienischen Basisgewerkschaft SI Cobas geheftet.

Wir waren bei mehreren Blockaden, Demos und gemeinschaftlichen Essen mit migrantischen Hausbesetzer*innen und Studierenden. Wir haben viele überglückliche Leute gefilmt, die gemerkt hatten, dass sie die Machtverhältnisse in ihrem Betrieb ändern können, wenn sie sich kollektiv zur Wehr setzten, und dass andere Leute glücklich sind, sie dabei zu unterstützen. Ich denke so was passiert ständig in allen Ecken der Welt und wir kriegen viel zu wenig davon mit.

In dem Buch Bewegungsbilder über Videoaktivismus im Verlag Bertz und Fischer kommt Klassenkampf nur als historisches Thema vor. Haben Sie den Eindruck, dass das Thema auch im Videoaktivismus nur eine Nebenrolle spielt?

Klassenkämpfe spielen eine große Rolle, sobald sie massiv auf die Straße getragen werden. Das zeigt die Mobilisierung in Chile, wo es sehr viel exzellente aktivistische Videoberichterstattung gibt. Über Kämpfe in den Betrieben gibt es sehr wenig Material. Viele Aktivist*innen, die in den 80er oder 90er Jahren politisch sozialisiert wurden, scheinen zu denken, es gäbe keine Arbeiter*innen mehr. Sie empfinden das Thema als aus der Zeit gefallen. Das ändert sich aber wieder. Wir haben uns 2013 näher mit diesem Thema auseinandergesetzt und ein paar Gruppen interviewt, die Kämpfe am Arbeitsplatz filmen.

Was ist Ihre Bilanz von zehn Jahren labournet.tv?

Ich bin einfach dankbar und glücklich, dass wir diese Arbeit jetzt zehn Jahre lang machen konnten, dass wir das Filmarchiv aufbauen, die Filme drehen konnten. Ich hoffe, dass es bald mehr Projekte wie labournet.tv gibt. Denn es besteht ein immenser Bedarf an Leuten, die losziehen, wenn gestreikt wird und den Arbeiter*innen ein Mikrofon unter die Nase halten, oder eine Veranstaltung organisieren, in der sie berichten können, was bei ihnen im Betrieb passiert.

Hoffen Sie, mit Ihrer Arbeit die Gesellschaft zu verändern?

Diesen ganzen Bereich, wo Leute gegen ihre Vernutzung und Ausbeutung, gegen Altersarmut und die Zerschlagung ihrer Betriebe kämpfen, braucht mehr Berichterstattung. Das geht nicht, indem man mit der Gewerkschaftssekretärin redet, sondern indem man mit den Betroffenen selbst spricht und sich mit ihnen verbündet. Dann können wir eine breite gesellschaftliche Solidaritätsfront aufbauen, die die Verhältnisse tatsächlich umwälzt. Ich denke da an die Arbeitsbedingungen in den Krankenhäusern, in der Fleischproduktion, der Pflege, bei den Kurierfahrer*innen. Das alles muss von unten verändert werden. Der erste Schritt ist, sich mit den Beschäftigten zusammenzutun und sie zu fragen, was bei ihnen los ist. Oder man fragt sich: Was ist bei mir auf Arbeit eigentlich los?

Welche Pläne gibt es für die Zukunft?

Wir haben unsere Förderung durch die Stiftung Menschenwürde und Arbeitswelt verloren und können auf Dauer nur weitermachen, wenn zu unseren derzeit 120 Fördermitgliedern noch 280 weitere dazu kommen. Wir arbeiten an einem neuen Film »The Loud Spring«, bei dem es um den Klimawandel geht und wie er aufgehalten werden kann. Mit dem Film wollen wir Erfahrungen aus der Arbeiter*innenbewegung für die Klimabewegung nutzbar machen. Das Crowdfunding startet am 3. Februar.

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