Als wären Frauen eine Wegwerfware

Nirgendwo in Mexiko werden mehr Frauen umgebracht als in Ciudad Juárez

  • Kathrin Zeiske
  • Lesedauer: 7 Min.

Ein rosa Fahrrad hängt an einem Laternenpfosten. Daneben ragt vor einer türkisenen Häuserwand ein kahler Baum in den tiefblauen Wüstenhimmel. Genau hier, ein paar Straßenzüge von der Fußgängerzone des Zentrums entfernt, wurde vor einem Jahr Isabel Cabanillas ermordet, als sie mit dem Rad auf dem Weg nach Hause war. Das Leben der jungen Künstlerin, Aktivistin und Mutter wurde ausgelöscht.

Künstlerkollektive und Initiativen waren tief betroffen von dem Mord an ihrer Weggefährtin mit dem manchmal blau, manchmal lila gefärbten Pagenkopf und setzten ihr mit dem aufgehängten Fahrrad ein Denkmal. Der Mord an Isabel Cabanillas sorgte zwar weltweit für Schlagzeilen, doch bis heute gibt es noch immer keine Aufklärung. »Isa vive, la lucha sigue« ist an die Wand gesprayt: »Isa lebt, der Kampf geht weiter.«

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Eine Gruppe von Frauen legt Blumen nieder und zündet Kerzen an. »Es war ein schwerer Schlag, dass sie gerade eine von uns umbringen«, erklärt Lydia Graco. Ihre schwarze Kleidung und die dunklen Locken lassen ihre grünen Augen noch klarer erscheinen. »Wir sind doch nicht viele, die in dieser Stadt gegen Frauenmorde kämpfen.« Die glockenhelle Stimme und die Ruhe, mit der sie spricht, stehen im Gegensatz zu den düsteren Szenarien, von denen sie berichtet.

Lydia ist 30 Jahre alt. Als sie zwei Jahre alt war, begannen die Frauenmorde in ihrer Stadt. Sie wuchs mit den Vermisstenplakaten von den Mädchen auf und mit den schwarzen Kreuzen auf rosa Grund, mit denen an den Straßenecken der Innenstadt Angehörige und Aktivisten Gerechtigkeit für die Morde einforderten.

In den staubigen Vierteln am Rande der Stadt wurden auf brachliegenden Geländen Frauenleichen gefunden, verschwunden auf dem Weg nach Hause, unabhängig voneinander entführt, aber verscharrt in einem gemeinsamen Grab. Lydia spielte niemals alleine auf der Straße, immer hielten Mutter oder Großmutter ein wachsames Auge auf sie und ihre Schwester. Eine Normalität, die keine war, keine sein sollte und doch noch immer als solche hingenommen wird in der Industriemetropole an der Grenze zu den USA, die heute fast 1,7 Millionen Einwohner hat. Doch das sollte Lydia Graco erst sehr viel später bewusst werden.

Sie empört sich als junge Studentin über die 43 gewaltsam verschleppten Lehramtsstudenten von Ayotzinapa - ein Verbrechen, das Mexiko bis heute beschäftigt. Lydia Graco besetzt das Rektorat der Universität mit und stellte 43 leere Stühle davor auf, mit den Bildern der ermordeten Kommilitonen. Von da an setzt sie sich auch für die verschwundenen Mädchen und Frauen in Ciudad Juárez ein. Sie findet es wichtig, sich mit anderen Studentinnen zu organisieren und auszutauschen - als Frauen unter sich. »So haben wir vor rund sechs Jahren ein feministisches Kollektiv gegründet.« Die Hijas de su Maquilera Madre nennen sie sich, die »Töchter von Maquila-Müttern«. Was im Spanischen wie eine Beschimpfung anmutet, deuten sie positiv für sich um. »Wir sind die erste Generation an der Universität, während unsere Mütter alle in den Montagefabriken hier an der Grenze gearbeitet haben.« Das sei etwas, was sie nicht beschäme, sondern stolz mache, erzählt sie.

Mit anderen Aktivistinnen, den Müttern von verschwundenen Frauen und Mädchen, machen sich die Mitglieder des Kollektivs auf den Weg nach Chiapas im Süden des Landes, um an den Treffen teilzunehmen, zu denen die Frauen der autonomen zapatistischen Gemeinden einladen, um von der Situation in Ciudad Juárez zu berichten und sich zu vernetzen. Dort, inmitten satter grüner Landschaften, so ganz anders als der karge Norden mit seinen Kakteen und Dornenbüschen. »Die gemeinsamen Aktivitäten sind es, die mir Kraft geben, die eine Hoffnung auf Veränderung bringen«, sagt sie mit fester Stimme.

Am Todestag von Isabel Cabanillas haben die Aktivistinnen von Ciudad Juárez 2000 kleine rosa Kreuze an der vor ein paar Jahren geschaffenen Sonderstaatsanwaltschaft für Frauen angebracht. Es ist ein schnörkelloser Bürobau hinter den Eisenbahnschienen, die zunächst ins Zentrum und dann in die USA führen, vorbei an der schroffen rötlichen Bergkette der Sierra de Juárez. »Die Kreuze werden wahrscheinlich morgen wieder abgenommen, aber wir wollen das Ausmaß der tödlichen Gewalt gegen Frauen sichtbar machen.« Jeder der ermordeten Frauen wollten sie symbolisch ein Denkmal setzen. Lydia Graco kann sich nicht erinnern, wie viele dieser kleinen Kreuze sie selbst gefertigt hat, schnell gemacht aus zusammengeklebten Eisstielen, mit rosa Wandfarbe überpinselt. In Ciudad Juárez müssen Mahnmale selbst gemacht werden. »Aber die kollektive Erinnerung ist wichtig«, sagt sie. Bei einem Studienaustausch in Berlin war sie tief beeindruckt von der Gedenkkultur an den Holocaust und den Fotosammlungen der Opfer in der KZ-Gedenkstätte Ravensbrück, bei denen »Namen und Gesichter hinter den Zahlen hervortreten«.

Ein breites gesellschaftliches Bewusstsein für die Femizide fehle in Juárez allerdings, erklärt sie. »Jeder weiß irgendwie irgendwas über die Frauenmorde. Doch ohne Gerechtigkeit auf der Grundlage einer akribischen juristischen Aufarbeitung sind die wahren Dimensionen den wenigsten bewusst.« Viel zu oft würden die Opfer diffamiert. Sie wären wohl in den Drogenhandel involviert gewesen und deshalb umgebracht worden, heiße es etwa. Gerade wenn sie in den marginalisierten Schlafstädten im Südosten von Ciudad Juárez ermordet werden.

Die meisten der dort lebenden Familien sind aus anderen Bundesstaaten Mexikos hinzugezogen und arbeiten in entbehrenden Schichten in den Fabriken, den Maquilas. Winzige Häuser stehen in endlosen Reihen. Kaum ein Baum spendet Schatten in der gleißenden Sonne; von Parks und Sportanlagen können Jugendliche und Kinder hier nur träumen. Die Abwesenheit von öffentlichem Transport, Straßenbeleuchtung und städtischen Einrichtungen sowie die Präsenz von Drogenkartellen und ein hoher Konsum von Crystal Meth tragen zu einer allgemein hohen Unsicherheit bei.

»Für die Organisierte Kriminalität sind Mädchen und Frauen eine Wegwerfware«, meint Lydia Graco. Die Kartelle machten sie zu abhängigen Konsumentinnen und Dealerinnen. Andere würden zu Prostitution und Frauenhandel gezwungen. »Wer nicht mehr gebraucht wird, wird umgebracht. Und die Gesellschaft blendet dabei aus, dass die Mehrheit in dieser Stadt kaum eine Chance auf ein gutes Leben hat.« Vielen Menschen bliebe nur der Drogenkonsum als Ausbruch aus der Perspektivlosigkeit.

Doch Femizide werden in Ciudad Juárez schon lange nicht mehr nur von Angehörigen der Kartelle ausgeführt. »Vielfach sind es Partner und Ex-Partner, die Gewalt ausüben«, sagt Lydia Graco. Wie überall auf der Welt hat der Lockdown die Situation von Frauen noch verschlechtert. »Sie sind auf einmal 24 Stunden am Tag mit ihren Aggressoren eingeschlossen.« Im Moment steht die Gesundheitsampel in Ciudad Juárez auf Gelb. Die Zahl derer, die an Covid-19 sterben, ist ähnlich hoch wie die der Gewaltopfer. Noch haben wegen der Pandemie längst nicht alle Geschäfte wieder geöffnet. Die Grenzbrücken nach El Paso, Texas, die sonst die eng verknüpfte Gesellschaft- und Wirtschaft verbinden, bleiben weiterhin für die meisten Familien geschlossen.

So nutzt Lydia Graco den Sonntag, um mit ihrer Schwester in die Sanddünen von Samalayuca vor den Toren der Stadt zu fahren. Nur der Wind ist hier zu hören. Hasen mit schwarzen Ohren kreuzen die einsamen Feldwege, glänzende Skarabäus-Käfer erklimmen die vom Wind gewellten Dünen und mit etwas Glück sind die Spuren eines Pumas zu finden, der im Morgengrauen unterwegs war.

Während die Dünen ein beliebter Ausflugsort sind, ist das unweite Juáreztal direkt am rostbraunen Grenzzaun kaum besucht. Dort soll es noch immer Massengräber aus dem sogenannten Drogenkrieg geben. Im ausgetrockneten Flussbett des Navajobachs fanden Familienangehörige und Aktivistinnen vor Jahren auch die Überreste von sechzehn verschwundenen Mädchen. Ein Gerichtsverfahren gegen Angehörige der dem Juárezkartell zugeordneten Bande »Los Aztecas« folgte, das einen Frauenhandelsring bis ins örtliche Gefängnis offenlegte.

Auch Lydia Graco wollte persönlich zur Aufklärung der Frauenmorde beitragen und ihren Master in Forensischer Anthropologie machen. Doch als sie ein Praktikum im städtischen Leichenschauhaus absolvieren sollte, dort, wo Körper und Knochenfunde ermordeter Frauen eingeliefert werden, wurden ihr Steine in den Weg gelegt. »Als ich Morddrohungen erhielt, habe ich das Studium abgebrochen. Wem nützt es, wenn ich tot bin?« Sie seufzt. »Ich glaube nicht, dass ich noch mal ein Juárez ohne Femizide erleben werde.« Zu tief sei der Frauenhass gesellschaftlich und institutionell verankert. Ein grundlegender Wandel der Geschlechterverhältnisse sei von Nöten, sagt sie. »Dazu braucht es ganz neue Erziehungsansätze in Familien und Schule.«

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