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So normal wie andere Frauen

Das Desert Flower Center hilft nach Genitalverstümmelung.

  • Philipp Hedemann
  • Lesedauer: 5 Min.

Es waren vier Frauen und zwei Männer. Sie haben mich festgehalten. Ich habe sie gebissen, getreten, gekratzt und geschlagen. Aber sie waren stärker. Eine alte Frau hat mir erst alles abgeschnitten und mich dann zugenäht. Überall war Blut.« Wenn Neyrus (Name geändert) davon erzählt, wie sie vor neun Jahren in Mogadischu an den Genitalien beschnitten wurde, füllen sich ihre Augen erneut mit Tränen. Niemals würde sie ohne Schmerzen leben, niemals würde sie sich wie eine vollständige Frau fühlen, niemals würde sie ein erfülltes Sexualleben haben können, hatte die junge Somalierin gedacht. Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation WHO ist Neyrus eine von weltweit rund 200 Millionen heute lebenden beschnittenen Frauen. Die meisten von ihnen leiden ihr Leben lang unter dem brutalen Eingriff. Neyrus wurde am Desert Flower Center Waldfriede in Berlin operiert. In einem aufwendigen Eingriff wurden ihre Schamlippen und ihre Klitoris rekonstruiert. Seitdem feiert die 18-Jährige den Tag der Operation als ihren zweiten Geburtstag.

Als sie neun Jahre alt war, wollte Neyrus am liebsten sterben. Oder zumindest in Ohnmacht fallen, um die höllischen Schmerzen nicht länger ertragen zu müssen. Ohne Betäubung schnitt eine alte Beschneiderin ihr damals die Klitorisspitze und die inneren und äußeren Schamlippen ab. Anschließend nähte sie das Mädchen bis auf eine winzige Öffnung für Urin und Menstruationsblut wieder zu. Ob mit Akaziendornen Fäden oder Tierhaaren, weiß Neyrus nicht. Sie weiß nur, dass sie krumm und schief zugenäht wurde. »Das liegt wahrscheinlich daran, dass ich mich so gewehrt habe«, glaubt Neyrus heute.

Als die alte Frau sie im Haus ihrer Eltern verstümmelte, schrie sie flehend nach ihrer Mama. Doch die Mutter versuchte den Blicken ihrer Tochter auszuweichen, sich vor Neyrus zu verstecken. Neyrus weiß, dass ihre Mutter sie nicht beschneiden ließ, um sie zu quälen, sondern weil sie nur das Beste für sie wollte. Im Bürgerkriegsland Somalia ist der Vorgang üblich. Die Mütter tun es, weil sie glauben, dass ihre Mädchen sonst einen so starken Sexualtrieb entwickeln, dass sie später nicht treu sein und deshalb nicht verheiratet werden können. Und dass ihre Töchter sonst unrein würden. Außerdem glauben sie, der Koran fordere die Beschneidung. Nichts davon stimmt. Praktiziert wird die grausame Tradition dennoch - weil es schon immer so gemacht wurde.

Rund fünf Jahre nach der Beschneidung verlor Neyrus ihre Eltern bei einem Terroranschlag. Von diesem Tag an war sie mit ihrer kleinen Schwester und ihrem kleinen Bruder allein und schutzlos auf sich selbst gestellt. Kurz darauf wurde sie von drei Männern aus der Nachbarschaft brutal vergewaltigt. Als ihr Onkel beschloss, sie nach dem abscheulichen Verbrechen erneut zunähen zu lassen und sie gegen ihren Willen mit einem ungefähr 60 Jahre alten Mann zu verheiraten, beschloss die damals 15-Jährige zu fliehen. »Ich konnte es einfach nicht ertragen, dass die Täter, die ich jeden Tag sehen musste, frei herumliefen und ich für das, was sie mir angetan hatten, bestraft werden sollte. Ich hätte die Schmerzen beim Zunähen nicht ein zweites Mal ertragen können und wollte keinen alten Mann heiraten«, erzählt Neyrus im Desert Flower Center in Berlin.

Ein anderer Onkel besorgte ihr ein Flugticket nach Istanbul. Von dort schlug sie sich irgendwie nach Berlin durch, lebt seitdem in einer Einrichtung für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Erst hier erfuhr sie, dass nicht alle Frauen beschnitten sind und dass es im Desert Flower Center Ärzte gibt, die Genitalien und damit die Würde von beschnittenen Frauen wiederherstellen können. Benannt ist das Zentrum nach Waris Dirie, dem somalischen Topmodel, das selbst beschnitten wurde und in »Wüstenblume« (im englischen Original Desert Flower) offen über die brutale Tradition sprach. Doch auch über 20 Jahre nach Erscheinen des Buches werden vor allem in afrikanischen, asiatischen und arabischen Ländern Mädchen und Frauen beschnitten. Die meisten von ihnen sind muslimisch, doch auch Christinnen werden beschnitten.

Durch Flucht und Migration kommen auch immer mehr von ihnen nach Deutschland. Die Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes schätzt, dass mittlerweile mehr als 70 000 beschnittene und mehr als 17 000 gefährdete Frauen und Mädchen in Deutschland leben. Ein »Schutzbrief« der Bundesregierung soll Mädchen künftig vor Genitalverstümmelung bewahren. Das Dokument wurde am Freitag von der Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) vorgestellt.

Wie viele Mädchen und Frauen bei den meist von medizinischen Laien unter unhygienischen Umständen durchgeführten Eingriffen verbluten, an Infektionen sterben oder sich bei der Beschneidung mit HIV, Hepatitis und anderen Krankheiten infizieren, ist unbekannt. Sicher ist, dass viele beschnittene Frauen ihr Leben lang vor allem beim Wasserlassen und bei der Menstruation Probleme haben. In der Hochzeitsnacht werden die oft sehr jungen Bräute unter höllischen Schmerzen durch Penetration, mit einem Messer oder einer Rasierklinge geöffnet. Schon viele Frauen haben das nicht überlebt, andere starben, wenn ihr Baby bei der Geburt im vernarbten und verengten Geburtskanal stecken blieb.

»Viele meiner Patientinnen sind traumatisiert und leiden unter Panikattacken, Bindungsängsten, Alpträumen und Depressionen«, berichtet Cornelia Strunz, die ärztliche Koordinatorin des Desert Flower Centers. Mehr als 200 Frauen haben sich hier bislang operieren lassen.

Neyrus geht es nicht um Sex. »Gott hat mich perfekt erschaffen. Dann hat ein Mensch mich verstümmelt. Das ist eine Sünde«, sagt die fromme Frau, die ihr Haar unter einem Schleier verbirgt. Sie weiß, dass keine einzige Sure des Korans fordert, dass Frauen beschnitten werden sollen. »Darum wollte ich wieder vollständig sein. Normal! So wie andere Frauen.«

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