nd-aktuell.de / 13.02.2021 / Politik / Seite 14

Die Suche nach Antworten

Ein Jahr nach dem Anschlag in Hanau sind immer noch Fragen offen

Dîlan Karacadağ

Es ist Samstagnachmittag. Vor der Anlaufstelle der »Initiative 19. Februar« sind viele Menschen zusammengekommen, um zu frühstücken und den Tag gemeinsam zu verbringen. Sie besprechen Aktionen, planen Kundgebungen und Demonstrationen. Das Büro der Initiative in Hanau liegt nur wenige Meter vom Heumarkt entfernt. Hier und an einem weiteren Tatort erschoss am 19. Februar 2020 Tobias R. aus rassistischen Motiven neun Menschen. Anschließend tötete er seine Mutter und dann sich selbst.

Die Anlaufstelle dient als Gedenkort. Hier treffen sich vor allem Angehörige der Opfer. Einige von ihnen sind mittlerweile so fest mit der Initiative verwachsen, dass sie im Laden mehr Zeit verbringen als in ihrem eigentlichen Zuhause. Vor allem am Wochenende trifft man viele von ihnen regelmäßig in der Anlaufstelle an. Hier finden sie Unterstützung in Behördenfragen, auch rechtliche Fragen werden geklärt. Sie tauschen sich über die Versäumnisse der Sicherheitsbehörden aus und teilen Privates miteinander. Und trauern gemeinsam. »Hier können wir atmen«, sagt Çetin Gültekin. Er verlor bei dem Anschlag seinen Bruder, den 37 Jahre alten Gökhan Gültekin. »Wenn ich hierher komme, fühle ich mich wie bei meinem Bruder zu Hause«, sagt er mit strahlenden Augen.

Im Schaufenster hängen Illustrationen der neun Opfer. Vorbeilaufende sollen auf den ersten Blick erkennen, worum es hier geht: Trauer, Erinnerung, Beratung und Vermittlung. Beim Betreten des Raumes fällt als erstes die große Illustration der Künstlerin Elif Küçük auf. Sie hat Porträts der Opfer gezeichnet, das Bild hängt überlebensgroß an der Wand. An einer Ecke stehen Sessel, ein Tisch mit verschiedenen Zeitschriften, drum herum Kerzen und weitere Materialien, darunter Aufkleber mit Beschriftungen wie »FCK NZS«. Diese können Gäste mitnehmen, um sie auf Demonstrationen zu verteilen. Ein Blick durch das riesige Schaufenster gibt die Sicht auf den Heumarkt frei. Jemand kocht Tee.

Plötzlich hört man lautes Lachen. Fünf Familien der Opfer scherzen untereinander. Filip Goman, Vater der ermordeten Mercedes Kierpacz, ist gleichzeitig wütend, dass die Polizei am Tatabend nicht zu erreichen war. Er wird immer lauter, steht plötzlich auf, hält seine Hand wie eine Pistole, ruft »Pam pam pam pam!« Bei der kleinen Aufführung müssen die Familien Păun, Unvar, Kurtović und Gültekin erneut lachen. Seit einem Jahr sprechen sie immer wieder über die schreckliche Tat. Viel zu viele Fragen sind noch offen - Versäumnisse der Behörden, die nicht aufgeklärt worden sind. Doch dann wird es still. Filip Gomann setzt sich wieder, manche blicken zu Boden. Eigentlich ist es ein ernstes Thema, aber Lachen ist manchmal notwendig.

Die Angehörigen suchen nach Antworten: Warum haben die Behörden versagt? Warum hat die Polizei in der Tatnacht keine Notrufe angenommen? Warum wurde der Zeuge nicht ernst genommen, der das Fahrzeug des Täters gesehen hatte und einem Polizisten, der vor dem Tatort stand, das Kennzeichen gab? Warum will die Polizei den Vater des Täters, der immer wieder durch ähnliche rassistische Äußerungen und Taten aufgefallen ist, wie sein Sohn, in Schutz nehmen; und warum »bat« sie die Opferfamilien darum, ihm nichts anzutun? Warum werden Veranstaltungen und Gedenkkundgebungen abgesagt, während rassistische und rechte Demonstrationen zugelassen werden? Warum? Diese Widersprüche erleben die Familien tagtäglich.

Seit dem Anschlag hat sich das Leben vieler Menschen in Hanau komplett verändert. Einige Heranwachsende mussten schnell erwachsen werden. So auch Piter Minnemann. Er ist ein Überlebender des Anschlags vom 19. Februar. Auch er ist an diesem Samstag im Büro der Initiative. An seinem selbstbewussten und routiniertem Verhalten ist zu erkennen, dass er schon häufig interviewt und zur Tatnacht befragt worden war. Ein 19 Jahre alter junger Mann, der einen Anschlag überlebt hat, sieht sich verpflichtet, wieder und wieder von einer schrecklichen Tat zu berichten. Der Grund: Es sollen endlich Konsequenzen gezogen werden. Für ihn ist es ein Kampf um Gerechtigkeit. Auf die Frage »Wie geht es dir nach einem Jahr?« antwortet er mit zuckenden Schultern und rhetorischer Frage zurück: »Wie soll es mir denn gehen? Eigentlich sollte es mir besser gehen, aber das tut es nicht, solange der Vater des Täters noch unter uns lebt.« Er fährt fort: »Wir kommen nicht zur Ruhe. Wir sind immer noch mit dem Anschlag beschäftigt. Die Arbeit, die eigentlich die Behörden machen müssen, machen wir selbst.« Minnemanns Antworten sind sehr knapp, aber prägnant.

Tobias R. erschoss zunächst drei Menschen in zwei Lokalen am Heumarkt: Kaloyan Velkov, Fatih Saraçoğlu und Sedat Gürbüz. Dann fuhr er Richtung Kesselstadt. Dabei wurde er von Vili Viorel Păun verfolgt, der aus dem Auto heraus versuchte, die Polizei zu alarmieren und den Standort des Täters anzugeben - doch es kam keine Verbindung mit dem Notruf zustande.

Piter Minnemann wartete unterdessen in der »Arena-Bar« in Kesselstadt auf seine Pizza. Als Păun nach Tobias R. vor der Bar ankam, erschoss dieser ihn im Auto. Der Täter stürmte daraufhin in die Bar und ermordete Ferhat Unvar, Mercedes Kierpacz und Gökhan Gültekin. Piter Minnemann überlebte den Anschlag und verständigte die Polizei. »Wir wissen genau, dass in Deutschland Behörden nicht gegen sich selber ermitteln und ungern Fehler einräumen, die leider passiert sind«, sagt Minnemann. »Daher erwarten wir keine Antworten auf die vielen Versäumnisse, mit denen wir uns zufriedenstellen können. Wir haben uns selbst an die Arbeit gemacht und nach Antworten gesucht.« Einige haben sie gefunden, andere sind noch immer offen.

Für Minnemann ist die Initiative 19. Februar »ein gutes Rückgrat« für die Hinterbliebenen. Ein gemeinsames Ziel sei es, Rassismus zu bekämpfen. »Sowohl in Behörden als auch in Schulen. Viele wissen nicht, wie man mit Alltagsrassismus umgehen soll.« Die Mitglieder der Initiative fordern, das zu ändern. Und sie kümmern sich selbst darum: Minnemann hat die Bildungsinitiative Ferhat Unvar mitgegründet, die bundesweit gegen Alltagsrassismus aufklären will.[1]

Während sich viele Altersgenossen von Minnemann kaum Gedanken über das Morgen machen, geht er auf Kundgebungen und hält dort Reden. Er beschäftigt sich mit »Themen, mit denen sich ein heranwachsender Mann für gewöhnlich nicht auseinandersetzt. Wir aber sind dazu gezwungen. Wir haben eine andere Perspektive zur Politik und zum Leben entwickelt. Man sieht und erlebt, wie kalt die Politik ist.«

Im Hinterzimmer der Initiative 19. Februar richtet sich Minnemann auf und betrachtet verdrossen den Boden. »Ich kann auch Positives daraus ziehen: Zum Beispiel habe ich gelernt, wie man mit Behörden, mit der Stadt redet, wie man argumentieren kann; dass man eine andere Ausdrucksform wählen muss, damit etwas klappt. Ich wusste nicht, dass man mit einem härteren Ton manchmal mehr erreicht. Vor allem Menschen mit Migrationshintergrund sind weniger laut, wenn sie auf Behörden zugehen.«

Ihre Arbeit und Ausdauer kann den Angehörigen ihre Kinder und Geschwister, die sie verloren haben, nicht zurückgeben. Der Grund, warum die Hinterbliebenen dennoch weiterkämpfen, sind ihre offene Fragen: »Wir wollen, dass der Fall lückenlos aufgeklärt wird. Dass Versäumnisse geklärt und Menschen zur Rechenschaft gezogen werden.«

In der Küche wartet Filip Goman auf einen Tee. Im Samowar muss der Tee mindestens 15 Minuten ziehen. Er ist bereit, in der Wartezeit Fragen zu beantworten. Im Büroraum setzt Goman sich quer auf einen Stuhl, als würde er jeden Moment aufstehen wollen. Er hat beim Anschlag seine Tochter Mercedes Kierpacz verloren. Drei Kinder, die sie hinterließ, leben nun nach Angaben des Großvaters aufgeteilt auf ihre Großmütter. »Es ist nicht so, dass nur Mercedes tot ist, sondern eine ganze Familie wurde zerstört. Moralisch und seelisch sind wir am Tiefpunkt angekommen. Mercedes Brüder und Kinder trauen sich nicht mehr, aus dem Haus rauszugehen.«

Seit Anfang der 60er Jahre lebte die Roma-Familie in Deutschland. Ein Volk, das schon vor 1933 diskriminiert und verachtet wurde. Goman erinnert an den vergessenen Massenmord an Sintizze und Romnja: »Wir wurden 1933 verfolgt. Mein Großvater war im KZ. So wie die Juden wurden auch wir vergast. Doch das wird selten erwähnt.«

Goman erklärt, was die Tat von Hanau für die Familie bedeutet: »Mercedes ist in Hanau geboren und zur Schule gegangen; ihre Kinder sind in Hanau geboren und aufgewachsen. Stell dir jetzt vor, ein Terrorist zeigt sich öffentlich; schreibt eine 24 Seiten lange Anzeige, hat einen Waffenschein, hat eine Webseite, ist mehrmals den Behörden aufgefallen, doch dieser Mann schafft es, neun Menschen abzuknallen.«

Tobias R. war 43 Jahre alt, als er den Anschlag verübte. Kurz vor seiner Tat stellte er eine Homepage ins Internet, auf der er unter anderem ein 24-seitiges »Manifest« veröffentlichte. Darin beschreibt er krude Verschwörungsmythen, vermischt mit einer völkischen, rassistischen Weltsicht. Ähnlich lasen sich mehrere seitenlange Strafanzeigen, die er - teils gemeinsam mit seinem Vater - im Laufe der Jahre gestellt hatte. Zu organisierten Rechtsradikalen in Deutschland hatte R. nach Behördenangaben keine Verbindungen. Bekannt ist allerdings, dass R. Sportschütze war und mehrere Waffen besaß. Dass Vater und Sohn die gleiche Weltsicht teilten, zeigt auch eine Anklage gegen Hans-Gerd R. vom 2. Februar. Er soll in einer Eingabe an die Staatsanwaltschaft Teilnehmende einer Mahnwache, die Ende Dezember in Hanau stattfand, als »wilde Fremde« bezeichnet haben. Solche rassistischen Äußerungen seien nicht tolerabel und würden von der Behörde »mit aller Konsequenz« verfolgt, sagte der zuständige Oberstaatsanwalt der »FR«.

»Das Versagen der Behörden und der Polizei ist allein daran zu erkennen, dass ein Attentäter es schafft, hier am Heumarkt drei Menschen in zwei Räumen zu ermorden, ein paar Hundert Meter zu seinem Auto zu laufen, drei Kilometer in einen anderen Stadtteil zu fahren und dort weitere sechs Menschen zu ermorden«, sagt Goman. »Stell dir vor, es wäre kein Anschlag, sondern ein Banküberfall. Ich bin mir sicher, dass die Polizei in drei Minuten vor Ort gewesen wäre.«

In zwölf Minuten wurden neun Menschen ermordet. Filip Goman wird langsam lauter, man hört, wie er nach Atem ringt: »Der Täter schafft es, an mehreren Orten mehrere Menschen zu ermorden und danach nach Hause zu gehen«, sagt er und kommt dann auf die Versäumnisse der Polizei zu sprechen. »Unmittelbar nach dem ersten Anschlag bekam die Polizei von einem Zeugen das Kennzeichen des Attentäters. Doch sie schafft es weder, die Anschlagsorte großräumig abzuriegeln, noch, den Täter zu schnappen. Erst vier Stunden nach der Tat kommt die Polizei in die Wohnung des Täters und findet ihn und seine Mutter tot auf.«

Auch Filip Goman führt seinen Kampf um Gerechtigkeit und Aufklärung. Seine Frau sitzt derzeit im Gefängnis. Das macht die Trauerarbeit für ihn noch schwieriger. »Ich möchte, dass meine Frau in einen offenen Vollzug kommt; wenigstens mit Fußfesseln. So, dass wir wenigstens gemeinsam trauern können. So, dass wir den Tag gemeinsam verbringen können. Ich habe sie monatelang nicht gesehen. Meine Frau ist moralisch und seelisch kaputt. Auch die Ärzte empfehlen für sie einen offenen Vollzug. Doch weil wir Roma sind, werden wir härter bestraft als alle anderen. Meine Tochter wurde von einem Terroristen ermordet, obwohl es möglich gewesen wäre, diesen Mord zu verhindern. Nun habe ich einen letzten Wunsch: Lasst meine Frau wenigstens tagsüber frei.«

Der Tee ist längst fertig. Goman steht auf und läuft direkt zum Samowar, um sich vom frischgekochten Getränk ein Glas einzuschenken.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1148243.tot-sind-wir-erst-wenn-man-uns-vergisst.html