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Bedroht - und trotzdem da

Wie die queere Kunstszene in der Ukraine um Sichtbarkeit kämpft.

  • Norma Schneider
  • Lesedauer: 7 Min.

Auf einem Hang am Ufer des Dnepr steht eine Frau aus Stahl, die triumphierend Schwert und Schild in die Höhe reckt, 100 Meter hoch - das Mutter-Heimat-Denkmal. Die eindrucksvolle Statue erinnert an den Sieg der Roten Armee im Zweiten Weltkrieg und im vergangenen Juni wurde sie für einen kurzen Moment auch zu einem Symbol der ukrainischen LGBTIQ-Bewegung: Denn Mutter Heimat ließ eine riesige Regenbogenflagge über Kiew wehen. Da die jährliche Pride-Parade wegen der Pandemie ausfallen musste, sorgten die Organisator*innen von KyivPride dennoch für einen kurzen Moment für Sichtbarkeit. Eine Drohne flog die Fahne so nah an die Staue heran, dass es aussah, als wären sie verbunden.

Die Aktion dauerte zwar nur wenige Minuten, trotzdem folgten viele ablehnende Reaktionen. Homofeindlichkeit ist in der Ukraine allgegenwärtig, Wissen über Homosexualität und Geschlechterfragen ist hingegen sehr wenig verbreitet. Konservative Vorbehalte und Stereotypen bestimmen das Bild von lesbischen, schwulen, bisexuellen, intersexuellen und queeren Personen in der Öffentlichkeit - in den wenigen Momenten, in denen sie überhaupt wahrgenommen werden. In den letzten Jahren haben viele dafür gekämpft, dass sich in Sachen Sichtbarkeit etwas tut: 2013 fand die erste Pride in Kiew statt - mit 300 Teilnehmer*innen, flankiert von einem großen Polizeiaufgebot, um vor Angriffen von rechten Gruppierungen zu schützen. Seitdem entscheiden sich immer mehr Menschen dafür, sich nicht länger zu verstecken. Beim letzten Pride-March 2019 zogen mehr als 8000 Menschen durch die Hauptstadt.

Der Aspekt der Sichtbarkeit ist eines der wichtigsten Ziele der ukrainischen LGBTIQ-Community, da der Großteil der Ablehnung und Homo- und Queerfeindlichkeit auf Unwissen beruht. Wenn jedoch homosexuelle und queere Personen als normaler und alltäglicher Teil der Gesellschaft wahrgenommen werden, werden ihnen auch mehr Rechte zugestanden - so die Hoffnung der Community. Auch queeren Künstler*innen in der Ukraine geht es ums Sichtbarmachen: Sie schaffen neue Bilder von sexueller Vielfalt und Queerness - manche bewusst provozierend und sehr politisch, manche eher subtil und persönlich. Damit bekämpfen sie Klischees und sorgen auch innerhalb der Community für ein stärkeres Gefühl von Zugehörigkeit und Zusammenhalt.

Die gesellschaftliche Stimmung im Land macht es Künstler*innen jedoch nicht leicht, diese Vielfalt außerhalb der Community zu thematisieren. In der Ukraine gibt es zwar keine diskriminierenden Gesetze wie etwa in Russland, einen gesetzlichen Schutz vor Diskriminierung aufgrund von sexueller Orientierung oder Geschlechtsidentität gibt es allerdings auch nicht. Auch von einem Recht auf gleichgeschlechtliche Ehe oder eingetragene Lebenspartnerschaft ist das Land noch sehr weit entfernt. Die ukrainischen Medien sind mittlerweile weniger offen homophob als noch vor fünf oder sechs Jahren, berichtet Menschenrechtsaktivist Zorian Kis. Aber von gesellschaftlicher Repräsentation ist dennoch noch keine Rede. Laut der Kunsthistorikerin Oksana Semenik sind stereotype Darstellungen von Personen des LGBTIQ-Spektrums medial noch immer sehr verbreitet: »Zum Beispiel - wenn du schwul bist, heißt es, du bist sehr feminin. Viele Leute denken immer noch, dass das so funktioniert.« Queere Künstler*innen bemühen sich, solchen Vorurteilen etwas entgegenzusetzen. Semenik erzählt, wie falsch Kunst mit einer LGBTIQ-Thematik jedoch oft verstanden wird: »Die Leute denken, dass es eine große Sache ist, dass um etwas sehr Provozierendes geht, um viel Sex, ausgefallene Kleidung, Partys und Drogen. Aber darum geht es doch gar nicht. Es geht um Menschen, die von der Gesellschaft nicht wahrgenommen werden und Gleichberechtigung fordern.«

Viele in der Ukraine scheinen es allerdings bereits als Provokation anzusehen, wenn Menschen offen zeigen, wer sie sind. Semenik erzählt von einer Ausstellung der Künstlerin Yevgenia Belorusets aus dem Jahr 2012. Unter dem Titel »A Room of my Own« zeigte sie Fotografien von Paaren aus dem LGBTIQ-Spektrum in ihren Wohnungen. Für Semenik sind diese Bilder von häuslichen Alltagsszenen Ausdruck dafür, dass diese Paare sich nur zu Hause sicher fühlen können. »Im öffentlichen Raum können sie kein Paar sein.« Diese Fotoausstellung, an der nichts obszön oder offen sexuell gewesen sei, war für Konservative und Rechtsradikale jedoch »eine große Provokation«, berichtet die Kunsthistorikerin.

Angriffe von rechten Gruppen, die in den vergangenen zwei Jahren stark zugenommen haben, sind heute die größte Bedrohung der queeren Kunstszene in der Ukraine. Es sind systematische physische und digitale Attacken, die Angst verbreiten sollen, berichtet Menschenrechtsexpertin Svitlana Valko. Die andauernden Kämpfe in der Ostukraine haben zu einer Radikalisierung der Gesellschaft geführt. Viele traumatisierte Soldat*innen haben sich nach ihrer Rückkehr von der Front gewalttätigen rechten Gruppen angeschlossen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, »Tradition und Ordnung« zu verteidigen, und gezielt LGBTIQ-Aktivist*innen angreifen. Repräsentativ für die Gesellschaft sind diese Angriffe aber nicht, betont Valko, es gibt auch viel Unterstützung. Die Angst vor einem Backlash ist dennoch groß.

In den letzten Jahren kam es auch zu Angriffen auf Ausstellungen und Filmvorführungen. Teilnehmer*innen wurden zusammengeschlagen und ein Kino brannte teilweise nieder. Anonyme Bombendrohungen, die Veranstaltungen verhindern sollen, kamen ebenfalls vor. Öffentliche Kulturveranstaltungen, die als queerfreundlich erkennbar sind, müssen Monate im Voraus geplant werden, weil ein gutes Sicherheitskonzept nötig ist.

Rechte Einschüchterungsversuche erschweren es auch, überhaupt Veranstaltungsorte, Kooperationspartner und finanzielle Unterstützung für queere Kunstprojekte zu finden, berichten die Kuratorinnen Natasha Tzeliuba und Anna Ten. »Sponsoren schrecken vor dem Thema zurück. Wenn wir Ausstellungen mit traditioneller ukrainischer Stickerei machen würden, würden sie wahrscheinlich Schlange stehen.« So findet teilweise auch Selbstzensur von Künstler*innen und Veranstalter*innen statt. Doch die meisten wollen sich nicht einschüchtern lassen.

»Queere Kunst in der Ukraine ist deutlich gewachsen«, berichtet Künstler und Musiker Anatoly Belov. »Vor elf Jahren war ich der einzige schwule Künstler, der in der zeitgenössischen Kunst kontinuierlich mit dem Thema Homosexualität gearbeitet hat. Ich bin sehr froh, dass sich allmählich etwas in diesem Land ändert und ich nicht mehr alleine bin.« Noch sind queere Themen nicht in den großen Museen, populären Filmen und Bestsellerromanen angekommen. Vor allem unabhängige Galerien und Kunstzentren, selbstorganisierte Konzerte und Partys, kleine Verlage und Eigenpublikationen bieten zur Zeit Raum für queere Kunst. Dazu gehört das »Equality«-Festival in Kiew. Seit 2014 bringt es Künstler*innen und Aktivist*innen zusammen, die sich gegen verschiedene Formen von Diskriminierung einsetzen. Ausstellungen, Vorträge, Performances, Workshops, Konzerte und Partys bieten viel Raum für queere Themen. Aufgrund massiver rechter Drohungen und der Pandemie konnte das Festival in den letzten beiden Jahren allerdings nicht stattfinden. Aber auch außerhalb der Hauptstadt gibt es Projekte queerer Künstler*innen, doch dort ist die Situation oft noch schwieriger und der Kampf für Sichtbarkeit und gegen Hass und Vorurteile noch mühsamer. Ein regionaler Ableger des »Equality«-Festivals in Lviv musste wegen eines Angriffs von Rechtsradikalen evakuiert werden.

Queere Kunst hat - wie anspruchsvolle und herausfordernde Gegenwartskunst allgemein - kein großes Publikum in der Ukraine. Trotzdem schafft sie es ab und an, für größere Aufmerksamkeit zu sorgen. Ein Beispiel ist die Ausstellung »We were here« von Anton Shebetko. Der Künstler zeigte Fotografien von homosexuellen und transsexuellen Soldat*innen und half so, eine Behauptung rechtsradikaler Propaganda zu widerlegen, die Zorian Kis folgendermaßen zusammenfasst: LGBTIQ-Personen würden nicht in der Ostukraine kämpfen und nicht zur Verteidigung des Landes beitragen. Deshalb hätten sie keinen Anspruch darauf, gleichberechtigter Teil der Gesellschaft zu sein. Die seit Jahren andauernden Kämpfe in der Ostukraine und die Krim-Annexion haben die ukrainische Gesellschaft patriotisch aufgeladen. So fiel diese Behauptung der Rechten, die von außen betrachtet absurd erscheinen mag, auf fruchtbaren Boden. Mit der Ausstellung zu zeigen, dass Personen des LGBTIQ-Spektrums in allen Bereichen der Gesellschaft präsent sind, war deshalb ein wichtiger Beitrag zur gesellschaftlichen Toleranz.

Kunst, die queer ist, fordert eingefahrene Sichtweisen heraus und hinterfragt das, was als normal gilt. Wie es weitergeht - mit der Kunst und mit dem Kampf gegen Hass und für Gleichberechtigung in der Ukraine - hängt auch davon ab, wie sich die Gesellschaft insgesamt entwickelt. »Nach dem Euromaidan dachten viele, dass sich die Ukraine klar hin zu einer liberaleren Gesellschaft bewegt und weiter an Europa annähert«, sagt Zorian Kis. Jetzt sei man sich nicht mehr so sicher. Optimistisch ist er trotzdem. Fotokünstler Nikita Karimov fügt hinzu: »Veränderungen passieren zwar langsam, aber sie passieren.« Bis zur Gleichberechtigung mag es noch ein langer Weg sein, aber »es gibt kein Zurück mehr, dafür sind wir zu viele«.

Diese Recherche entstand im Rahmen des Projekts »Covering LGBT+ issues in translateral journalism«, ein deutsch-ukrainisches Austauschprogramm von Deutsche Gesellschaft e. V. und der ukrainischen NGO »Gender Z«, gefördert vom Auswärtigen Amt.

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