Plädoyer für das Wechselmodell

Bildungsgerechtigkeit wird zur Worthülse

  • Ilka Hoffmann
  • Lesedauer: 3 Min.

Normalerweise ist es allenfalls ein Ärgernis und kein extrem großes Problem, wenn Politik im Vagen bleibt, also zunächst prüft, anstatt zu handeln. In einer Krise wie der Corona-Pandemie macht man sich aber damit keine Freunde bei denen, die täglich unter Zeitdruck Entscheidungen treffen und handeln müssen. Vielerorts ist die Geduld der Lehrkräfte und Erzieher*innen schon lange aufgebraucht. Die Kolleg*innen verlangen zu Recht, dass der Schutz der Gesundheit der Lehrkräfte, Erzieher*innen sowie der Kinder und Jugendlichen endlich ernstgenommen wird.

Mit dem Aufstellen immer differenzierterer Hygienepläne soll zwar Aktivität bewiesen werden. Tatsächlich aber wird den Schulleitungen, Lehrkräften und Erzieher*innen die Verantwortung zugeschoben. Das Einfordern von Maskenpflicht und Lüftungsprotokollen ersetzen kein schlüssiges Gesamtkonzept. Positiv ist, dass die Kanzlerin eine Impfpriorisierung der pädagogischen Beschäftigten ins Gespräch gebracht hat. Dies begrüßt die GEW. Problematisch ist aber, dass das föderale Chaos bestehen bleibt. So gibt es weiter Länder, die zumindest einen Stufenplan versuchen und solche, die weiter auf die konzeptlose Öffnung der Schulen ohne ausreichenden Gesundheitsschutz setzen.

Eine der beliebtesten Worthülsen in der Politik ist zur Zeit die »Bildungsgerechtigkeit«. Zunächst einmal ist es gut, dass an die Benachteiligung vieler Kinder und Jugendlicher verstärkt gedacht wird, dass es auch Anstrengungen gibt, diese mit mobilen Endgeräten auszustatten. Doch drängt sich immer mehr der Gedanke auf, dass der Hinweis auf die Bildungsbenachteiligung in erster Linie als moralische Waffe gegen die Ansprüche der Beschäftigten an den Gesundheitsschutz eingesetzt wird. Das beherrschende Thema der Bildungspolitik war nämlich von Beginn der Pandemie an das Abitur - und nicht die Gefährdung von Kindern und Jugendlichen aus sozioökonomisch benachteiligten Familien. Die Lernenden mit sonderpädagogischem Förderbedarf hat man sogar ganz vergessen, geflüchtete Kinder und Jugendliche erhalten weiter keine mobilen Endgeräte zum Lernen.

Der Gipfel der politischen Konzept- und Verantwortungslosigkeit ist das in manchen Bundesländern praktizierte Aussetzen der Präsenzpflicht. Dabei wird an die Eltern appelliert, ihre Kinder nur zur Schule oder Kita zu schicken, wenn es unbedingt nötig ist. Die Ergebnisse: Die Gruppen sind groß und wechseln ständig ihre Zusammensetzung. Die Planbarkeit pädagogischer Konzepte wird verunmöglicht. Es kommen in erster Linie Kinder aus der Mittelschicht in die Einrichtungen, Kinder aus benachteiligten Familien bleiben häufig fern und können auch nicht erreicht werden. Mit einem solchen »Konzept« machen sich Bildungsministerien auf Kosten der Beschäftigten einen schlanken Fuß.

Viele Lehrkräfte berichten von Kindern und Jugendlichen, die sie mit Lernangeboten nicht mehr erreichen, deren Schulabschlüsse ernsthaft in Gefahr sind. In einem Wechselmodell wurden sie noch erreicht, sie waren zum Erscheinen verpflichtet und konnten mit Material versorgt werden. Wechselunterricht bedeutet, dass jeweils nur ein Teil der Lerngruppe zur Schule kommt. In dieser Präsenzphase wird erarbeitet, was danach in der Fernlernphase zu Hause bearbeitet werden soll. Solch ein Modell kann nur gelingen, wenn sowohl Klassenarbeiten als auch Lernstoff reduziert werden. Das Festhalten an Leistungsnachweisen und »vollem Stoff« kombiniert mit einem Mix aus ungeregelter Schulöffnung und Notbetreuung stellt eine sinnlose Überforderung dar.

Manche Bundesländer wie Niedersachsen und Thüringen versuchen ein Stufenkonzept umzusetzen, in dem es verschiedene Szenarien je nach Infektionslage gibt. Dies ist ein gangbarer Weg. Die Stufen sollten sich sowohl am regionalen Inzidenzwert als auch an der personellen Situation in den Einrichtungen orientieren. Klar ist: Wechselmodelle klug und geregelt umgesetzt sind pädagogisch sinnvoll. Denn in kleineren Gruppen können pädagogische Probleme besser aufgefangen und Abstände besser eingehalten werden. Daher fordert die GEW Stufenmodelle sowie eine hohe Transparenz der Regelungen. Die Lehrkräfte und Erzieher*innen haben ihr Bestes gegeben, nun ist die Politik am Zug für verlässliche Rahmenbedingungen zu sorgen.

Ilka Hoffman ist Leiterin des Organisationsbereichs Schule in der Gewerkschaft GEW

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