Antirassistisch unterwegs in Neukölln

Links und rechts der Sonnenallee führen Studierende in 15 Stationen durch den Bezirk

  • Ulrike Wagener
  • Lesedauer: 3 Min.

Berlin, Hermannplatz: Ich stehe in der Sonne und fummele an meinen Kopfhörern. Als ich auf den Platz blicke, steht dort eine Polizeiwanne. Passend, denke ich mir. Die erste Station des Audioguides »Sonnenallee - Migration, Protest, Rassismus, Grenzziehungen«, der seit dem 1. Februar auf der Plattform guidemate steht, handelt von Racial Profiling. Biplab Basu von der Kampagne für Opfer von rassistischer Polizeigewalt erklärt, dass der Hermannplatz seit den 90er Jahren als sogenannter kriminalitätsbelasteter Ort gelte. An diesen dürften verdachtsunabhängige Kontrollen stattfinden, die, so Basu, vor allem Migrantinnen und Migranten treffen. Er sagt: »Es gibt keine Absicht, Menschen zu kontrollieren, um eine Straftat zu verhindern oder aufzuklären. Der einzige Grund ist, Menschen zu kriminalisieren und zu diskriminieren.«

Von Brandanschlag zu Stolperstein

»Diesen Vorurteilen wollten die Studierende der Evangelischen Hochschule Berlin etwas entgegensetzen«, sagt der Medienpädagoge Sebastian Schädler zu »nd«. Er leitet gemeinsam mit der Soziologin Juliane Karakayali das praktische Seminar »Flucht, Migration und Rassismus in pädagogischer und medialer Vermittlung« an der Hochschule. Darin solle den Studierenden der Sozialen Arbeit weniger ein spezielles Berufsfeld vermittelt werden, sondern eine politische Haltung, sagt Schädler. Und vor allem die Frage behandelt werden: »Wie erzähle ich es den anderen Menschen in der Welt?«

Der Audioguide hat 15 Stationen und ist über neun Kilometer lang. Nicht immer bleibt es so theoretisch wie an der ersten Station. Die dritte etwa behandelt den rassistischen Angriff auf zwei Männer in einem Lokal an der Sonnenallee, der im August 2019 stattfand. Weitere drei Halte behandeln die rechtsextremistischen Anschläge im Zuge des sogenannten Neukölln-Komplexes. Es geht um Brandanschläge, die Beleidigung und Bedrohung spielender Kinder, behördliche Diskriminierung von Sinti und Roma, Schmierereien auf Plakaten für die Opfer von Hanau, um jüdisches Leben in Neukölln, die Stolpersteine für Auguste und Leonhard Loewenthal in der Stuttgarter Straße, die Außenstelle des KZ Sachsenhausen in der Sonnenallee 187 bis zum ehemaligen Grenzübergang am anderen Ende der Sonnenallee und den Tod des letzten Maueropfers Chris Gueffroy. Man merkt dem Projekt an, dass die Studierenden möglichst alles abbilden wollten. Das macht ihn für die Spaziergängerin etwas unübersichtlich. Und auch weit. Nach zweieinhalb Stunden stehe ich am S-Bahnhof Sonnenallee und habe bis zum Grenzübergang, der letzten Station, noch über zwei Kilometer Fußmarsch vor mir.

Es bietet sich an, den Guide etappenweise zu absolvieren oder sich die Stationen auszusuchen, die einen interessieren. Möglich ist es natürlich auch, sich den Audioguide nur anzuhören, ohne vor Ort zu sein. Doch ist es gerade das Gefühl des »Hier war das also«, das die teils bekannten Geschichten so interessant macht. Manchmal ist die Zuordnung der Stationen allerdings etwas verwirrend. Warum zum Beispiel stehe ich bei einer Station zu Antiziganismus am Weichselplatz, sehe aber ein Bild vom Wohnungsamt an der Sonnenallee? Dozent Sebastian Schädler erklärt, dass einige der Standorte eher unspezifisch seien, habe auch damit zu tun, dass man betroffene Personen und Initiativen schützen wolle. Das fragliche Bild ist aber inzwischen ausgetauscht.

Mit Vorurteilen aufräumen

Das Spannende des Audioguides sind letztlich die Perspektiven der Studierenden. Und die zeigen sich nicht nur an der Themensetzung, sondern auch an der unterschiedlichen Gestaltung der Stationen, sei es durch Musik oder Vogelgezwitscher im Hintergrund. Hingewiesen wird man immer auch auf institutionellen Rassismus oder eigene verinnerlichte Vorurteile. Ein Schwerpunkt ist beispielsweise die Widerlegung des Vorurteils, Neukölln sei eine No-Go-Area für Jüdinnen und Juden. Und die Frage, ob man das Z-Wort für Roma und Sinti noch sagen dürfe, wird hier - anders als jüngst im WDR - nicht gestellt; gut und verständlich begründet wird diese Entscheidung dennoch. Man lernt in diesem Guide somit nicht nur etwas über rassistische Vorfälle des Bezirks, sondern auch über antirassistische Theorie und Praxis.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal