Hollywood wankt, China kommt

Der Anfang vom Ende des Westens? Der weltweite Kinomarkt wird neu geordnet

  • Fabian Kretschmer
  • Lesedauer: 5 Min.

Das »1895 Movie Street« im Pekinger Chaoyang-Bezirk ist eines jener Kinos, wie es sie in der chinesischen Hauptstadt zu Tausenden gibt: In einem gesichtslosen Einkaufszentrum gelegen, strömt aus der schummrig beleuchteten Lobby der Duft von gesüßtem Popcorn. Eine gelangweilte Verkäuferin hockt an der Theke und verkauft Cola und getrockneten Tintenfisch, doch viel zu tun hat sie an diesem Abend nicht: Die Tickets werden ohnehin ausschließlich am Automaten per Smartphone-Zahlung ausgegeben. Was nach einer profanen Alltagsszene klingt, liest sich in Zeiten der weltweiten Corona-Pandemie fast wie eine kleine Sensation: Im neuen Normalzustand der Volksrepublik sind die Kinos längst wieder offen.

Dennoch ist nicht alles beim Alten, wie ein Blick vor dem Eingang des »1895 Movie Street« demonstriert: Auf den aufgestellten Plakaten würden normalerweise die neue Star-Wars-Episode oder das jüngste Marvel-Sequel beworben werden, aber im Frühjahr 2021 geben ausschließlich heimische Produktionen den Ton an - darunter »Hi, Mom« über eine Mutter-Tochter-Beziehung sowie die Action-Komödie »Detective Chinatown 3«. Letztere spielte allein bis Mitte dieser Woche rekordverdächtige 450 Millionen Euro ein.

Chinas Filmindustrie hat ausgerechnet im Krisenjahr 2020 Hollywood als größtem Kinomarkt den Rang abgelaufen. Absolut gesehen sind die Einnahmen zwar auch im Reich der Mitte um über die Hälfte auf 2,7 Milliarden Dollar eingebrochen, dennoch führt die Volksrepublik seither die internationale Rangliste an. Trotz Corona haben Regisseure aus China über eintausend Filme gedreht, die auf über 75 000 Kinoleinwänden landesweit gezeigt wurden. Allein im letzten Jahr wurden im ganzen Land fast 6000 zusätzliche Säle errichtet.

In Deutschland dürfte jene Erfolgsgeschichte aus Fernost weitestgehend untergegangen sein. Ein weiteres Beispiel: Bis zu seinem Streaming-Release vergangene Woche dürfte der historische Kriegsfilm »The 800« des Regisseurs Guan Hu wohl nur eingefleischten Cineasten ein Begriff gewesen sein. Das chinesische Filmepos über den Zweiten Sino-Japanischen Krieg, in dem sich 1937 eine Truppe chinesischer Soldaten in einem Lagerhaus in Shanghai gegen eine japanische Übermacht behauptet, lief schließlich nur in einem halben Dutzend Ländern überhaupt in den Kinos. Und dennoch ist »Ba bei«, wie er im Original heißt, der weltweit erfolgreichste Film des vergangenen Jahres - erstmals stammt die Nummer 1 nicht aus Hollywood.

Gegen Ende des chinesischen Neujahrsfests - traditionell die Hochsaison für Kinobesucher - hält der positive Trend deutlich an. Denn während in vielen Teilen der Welt die Filmsäle geschlossen bleiben müssen, waren sie in China von morgens bis spätabends besucht: Nicht weniger als zehn heimische Produktionen wurden während der Ferienwoche veröffentlicht, am ersten Tag im Jahr des Ochsen nahmen sie laut Angaben der Branchenseite »Maoyan« über 1,7 Milliarden Yuan ein - umgerechnet fast 220 Millionen Euro. Insgesamt sind während der Feiertage über 160 Millionen Zuschauer gezählt worden - mehr als jeder zehnte Chinese hat also eine Kinovorstellung besucht.

Die hohen Einspielergebnisse haben auch damit zu tun, dass die Regierung mit erhöhten Auflagen und Reisebeschränkungen die Bevölkerung davon abgehalten hat, während des Neujahrsfests ihre Familien in der Heimatprovinz zu besuchen. Staatliche Daten belegen, dass Verkäufe für Zug- und Flugtickets um knapp drei Viertel zurück gegangen sind. Ein Großteil der jungen Chinesen blieb also gelangweilt in den großen Städten - und strömte fürs abendliche Unterhaltungsprogramm in die Lichtspielhäuser.

Geöffnet sind diese in China bereits seit vergangenem Sommer, mit einer maximal zugelassenen Auslastungskapazität von drei Vierteln aller Sitze. Die täglichen Infektionszahlen liegen bereits seit Monaten auf äußerst niedrigen Niveau. Dementsprechend hat die Zahl der Ticketverkäufe wieder annähernd das Vorkrisenniveau erreicht. Dies ist ein drastischer Kontrast zu Hollywood, dessen Filmstudios seit der Pandemie noch stärker auf Streaming-Dienste setzen.

Die Auswirkungen jener Entwicklungen werden wohl nachhaltig sein. Vielleicht erlebt die Welt derzeit den Anfang vom Ende der kulturellen Hegemonie des Westens. In seinem vielbeachteten Buch »The Decadent Society« macht der »New York Times«-Kolumnist Ross Douthat seine kritische Ist-Beschreibung der saturierten, stagnierenden Gesellschaft in den Vereinigten Staaten nicht zuletzt an der »kulturellen Erschöpfung« der Filmindustrie fest. Anstatt neue kollektive Mythen zu erschaffen, produziert der »dekadente« Westen nur noch das x-te Sequel vergangener Blockbuster: Noch ein weiterer »Star Trek«, »Terminator« oder Marvel-Superheldenfilm. Insofern ist es nur konsequent, dass die aufstrebendste Filmbranche in der Volksrepublik China beheimatet ist.

In China sind längst nicht mehr Hollywood-Blockbuster die ausschließlichen Publikumsmagneten. 2020 waren erstmals die zehn beliebtesten Filme ausschließlich heimische Produktionen. Das hat nicht nur mit den staatlich vorgeschriebenen Quoten zu tun, die importierte Filme auf 34 pro Jahr limitieren, sondern liegt schlicht auch daran, dass die Qualität der Unterhaltungsware in China stark angezogen hat. Machten ausländische Produktionen noch 2019 über ein Drittel aller Umsätze aus, waren es 2020 nur mehr 16 Prozent.

Für Außenstehende mag dies widersprüchlich erscheinen, dass ausgerechnet in einem der Verfassung nach kommunistischen Land mit autoritärer Regierung und strengem Zensurapparat spannende Filme gedreht werden. Am Beispiel des enorm erfolgreichen »The 800« lässt sich dies gut ablesen: Auch wenn das martialische Kriegsdrama nur so vor Pathos und Patriotismus strotzt, ist es doch State-of-the-art-Unterhaltungskino, das den Vergleich mit Hollywood nicht zu scheuen braucht. Daran ändert auch nichts, dass der Film erst im zweiten Anlauf die Genehmigung des Zensurbehörden erhalten hat.

Die Grenzen des Zeigbaren werden dennoch immer enger gezogen. Arthouse-Regisseur Zhang Yimou musste dies mit seinem kontroversen Werk »Yi miao zhong« (»Eine Sekunde«) erneut erfahren: 2019 hätte das Drama, das zur Zeit der Kulturrevolution spielt, auf der Berlinale aufgeführt werden sollen, wurde jedoch in letzter Sekunde »aufgrund technischer Probleme« zurückgezogen. Nachdem Teile neu gedreht wurden, musste der Filmemacher die Veröffentlichung ein weiteres Mal verschieben. Erst beim dritten Versuch kam eine gekürzte Version in die Kinos, die vom Mainstream-Publikum verschmäht wurde.

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