Technokraten des Kapitals

Die Regierung von Mario Draghi weckt in Italien viele Erwartungen.

  • Anna Maldini, Rom
  • Lesedauer: 4 Min.

Jetzt tritt Italien also in ein neues Zeitalter ein. Wenn man die Zeitungen liest, hat man zumindest den Eindruck, dass nun im Land alles effizienter, besser und grüner werden wird. Mario Draghi, der Außerirdische oder Superheld, wie er bezeichnet wird, wird nun alles richten und Italien in eine strahlende Zukunft führen. Wann diese Zukunft beginnt, weiß man allerdings noch nicht.

Eines ist jedoch schon mal klar: Das kleine perfide Virus hat keine Angst vor dem großen guten Drachen - »Draghi« bedeutet auf Italienisch Drachen. Es mutiert weiter vor sich hin und die Infektionszahlen gehen nur sehr, sehr langsam zurück, wenn überhaupt.

Die erste Entscheidung, die die neue Regierung treffen muss, ist, ob und welche Regionen in der nächsten Woche wieder zu einem härteren Lockdown zurückkehren müssen. Da die meisten Regionalregierungen dies bisher immer als eine Art Bestrafung oder Zurücksetzung und nicht als eine epidemiologisch notwendige Maßnahme angesehen haben, wird sich zeigen, ob Mario Draghi mit seinen angeblichen Superkräften in diesen Bereich etwas mehr Ordnung und Ruhe einkehren lassen kann.

Allgemein wird der ehemalige Chef der Europäischen Zentralbank EZB in erster Linie als eiskalt kalkulierender Finanzexperte gesehen, dem menschliche Regungen mehr oder weniger fremd seien und der sich in übernationalen Sphären wohler fühle als unter »normalen Leuten«. Einige Risse in dieser Fassade zeigten sich allerdings schon in den vergangenen Tagen: Bei seiner Antrittsrede im Parlament verhaspelte sich Draghi mehrmals und fragte seine Mitarbeiter fast schüchtern, wie er sich auf den Regierungsbänken zu verhalten habe. »Darf ich mich jetzt hinsetzen?«, fragte er zum Beispiel nach seiner Rede im Senat. Und als er mit den Worten eines Abgeordneten besonders einverstanden war, musste ihn ein Minister davon abhalten, in die Hände zu klatschen: »Das tut man hier nicht!«, wies er ihn zurecht. Die Medien fanden das »niedlich« oder zumindest unerwartet menschlich: Auch Superhelden haben also ihre Schwächen!

Die Italiener setzen große Erwartungen in die neue Regierung, vor allem in den Ministerpräsidenten. Aber etwas beunruhigt sind sie auch: Schon zu oft haben sie in der jüngeren Geschichte gehofft, dass die Lösung ihrer Probleme durch etwas »vollkommen Neues« von da oben kommen könnte. Das hofften sie in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts, als sie dem Medienunternehmer Silvio Berlusconi ihr Vertrauen schenkten - und dann enttäuscht wurden. Vor wenigen Jahren schien die Fünf-Sterne-Bewegung das absolut Neue - und gerade die ist jetzt dabei zu implodieren und sich aufzulösen. Nun ist das Neue Mario Draghi, und die Mehrheit der Bevölkerung setzt auf ihn. Aber die Italiener wären nicht Italiener, wenn neben ihrer Begeisterung nicht auch eine ganz gehörige Portion Skepsis mit im Spiel wäre. »Weiß der überhaupt, wer wir sind?«, »Weiß er, was hier passiert?«, »Kennt er unsere Sorgen?«, fragen sie sich - oder sogar »Ist der eigentlich Italiener?«.

Viele Menschen sind verunsichert: Zu groß erscheint die Diskrepanz zwischen Draghi und seinen Experten, die über einen Großteil der Geschicke des Landes entscheiden werden, und den Parteien, die ihn unterstützen, sich aber genauso verhalten wie eh und je: lautstarke Streitereien, Eitelkeiten, Polemiken, Gemeinheiten ...

»Mir kommt das so vor, als hätten wir es weniger mit einer demokratischen Regierung als vielmehr mit der Leitung eines Großunternehmens zu tun«, sagt Michele Brunetti, Manager aus dem süditalienischen Bari. »Die Parteien sind so etwas wie die Aktionäre, die streiten, und zu allem ihren Senf dazu geben möchten. Aber die Entscheidungen werden von einem kleinen Kreis im Verwaltungsrat getroffen.« Und er fügt hinzu: »Vielleicht ist das ja genau der richtige Weg, um wenigstens einige der größten Probleme des Landes in Angriff zu nehmen. Aber als Bürger frage ich mich auch, ob das wirklich demokratisch ist.«

Doch die meisten sehen es eher wie die römische Rentnerin Maria Fioroni: »Wir haben in den letzten Jahrzehnten schon alles Mögliche versucht, um unser Land voranzubringen. Jetzt also Mario Draghi. Vielleicht geht es ja dieses Mal gut. Man soll die Hoffnung nicht aufgeben. Geben wir ihm Zeit.«

Überhaupt kein Blatt vor den Mund nimmt Maurizio Acerbo, Sekretär von Rifondazione Comunista (Kommunistische Neugründung), Mitglied der Europäischen Linken, die nicht im Parlament vertreten ist. Er weist darauf hin, dass Draghi der erste Ministerpräsident Italiens ist, der in seiner Antrittsrede weder auf die Verfassung noch auf die Widerstandsbewegung Bezug genommen hat, durch die die italienische Republik überhaupt erst entstehen konnte. Dann: »Die Regierung des Bankiers Draghi ist fürchterlich und ekelhaft. Und nicht nur aufgrund der politischen Minister, über die man nur lachen kann. Mehr noch wegen der technischen Minister: Sie sind alle Ausdruck der Großunternehmen, der privaten Eliteuniversitäten und rechtsgerichteter katholischer Gruppen. Diese Regierung ist nicht das geringste, sondern das größte Übel.« Und dann fordert er alle Kräfte der sozialen und politischen Linken auf, im Land eine Alternative aufzubauen. Er schließt mit den Worten: »Wann, wenn nicht jetzt?«

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