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»Die Henne-Ei-Frage ist unproduktiv«

Das Patriarchat zerschlagen und neue Beziehungsformen aufbauen: Ein Gespräch mit Carolin Wiedemann über ihr neues Buch »Zart und frei«

  • Christopher Wimmer
  • Lesedauer: 5 Min.

Dem Begriff »Patriarchat« haftet etwas Antiquiertes an. Was bedeutet der Begriff für Sie und warum verwenden Sie ihn für eine Analyse der Gegenwart?

Die Zerschlagung des Patriarchats zu fordern ist in keiner Weise antiquiert, denn das Patriarchat ist längst nicht beseitigt. Ich verstehe darunter jene Ordnung, welche die Menschen fortwährend zu Männern und Frauen zu machen sucht und dabei letztere systematisch abwertet und ausbeutet. Eine Ordnung, die außerdem hetero- und cis-normativ ist, also Gewalt gegen LGBTIQ-Menschen begründet. Jenes Verständnis teilen die transnationalen queerfeministischen Bewegungen, die sich angeregt durch metoo, durch niunamenos und die internationalen Streiks von Frauen und Queers gebildet haben. Ihr Patriarchatsbegriff ist komplexer als es beim monolithisch angelegten Konzept einer Männerherrschaft der 1970er Jahre der Fall war. Sie machen auch den Zusammenhang von Sexismus mit kapitalistischen und rassistischen Ausbeutungs- und Klassenverhältnissen deutlich.

Carolin Wiedemann

Die Journalistin und Soziologin schreibt unter anderem für die »Frankfurter Allgemeine Zeitung«, für »Missy Magazine« und »Analyse & Kritik« über Fragen nach Kritik und Emanzipation. Bei Matthes & Seitz ist jüngst ihr Buch »Zart und frei. Vom Sturz des Patriarchats« erschienen. Mit Wiedemann sprach Christopher Wimmer.

Wie verhält sich das Patriarchat denn zu Kapitalismus oder Rassismus?

Die drei lassen sich nur in ihrer Verwobenheit voll verstehen. Manche Liberale glauben immer noch, Marktwirtschaft bringe Fairness, ihr läge einzig Gewinnorientierung nahe und der Profit steige schließlich, je mehr Arbeiter*innen auf Augenhöhe miteinander konkurrierten. Und auch manch Linke denken, dass sich antirassistische und feministische Kämpfe um Anerkennung gut mit dem Kapitalismus vertragen. Doch während einerseits die kapitalistische Produktionsweise als Ganzes freier und gleicher Rechtssubjekte bedarf, so haben andererseits Unternehmen ein Interesse daran, bereits bestehende Diskriminierung von Menschen zum Anlass für Lohndrückerei zu nehmen. Und Angestellte, die Angst vor zunehmender Konkurrenz haben, werden ebenfalls ihre Privilegien zu nutzen suchen. Der Zusammenhang erschließt sich weiter, wenn man die fortwährend imperialistischen Verhältnisse einbezieht: Die Ausbeutung des Globalen Südens ist auf rassistische Migrationskontrolle angewiesen. Und die Forderung nach einem Migrationsstop geht mit dem Appell einher, die Frauen im Inneren der kulturell homogen verstandenen Gemeinschaft müssten Kinder produzieren, ihre Körper unter Kontrolle gebracht werden, um der hiesigen Volkswirtschaft zu dienen. Dieser Zusammenhang von Patriarchat, Nationalstaat und Kapitalismus wird gerade mit Blick auf die nationalistische Mobilisierung der letzten Jahre deutlich.

Sie beschreiben in ihrem Buch die lange Geschichte des Patriarchats. Die bürgerliche Gesellschaft und die kapitalistische Produktionsweise entwickelten sich in ihrer Darstellung erst danach. Kehrt der marxistische Hauptwiderspruch unter umgedrehten Vorzeichen wieder zurück?

Keineswegs. Ich beschreibe, wie eng verbunden die Entwicklung dessen, was wir unter Eigentum verstehen, mit der Etablierung patriarchaler Muster ist. Und dass deren Verbindung bis in die Zeit der Sesshaftwerdung zurückreicht, was bereits Friedrich Engels analysiert hat. Daraus leiten manche immer noch die Haupt- und Nebenwiderspruchsthese ab, die meines Erachtens nicht schlüssig ist. Die Henne-Ei-Frage ist auch unproduktiv. Viel interessanter ist, was auch Engels zeigt, wie sehr das Kleinfamilienmodell das Band von Kapitalismus und Patriarchat, also einer binären, gewaltvollen Geschlechterordnung, verwoben hat. Und dieses Modell der Kleinfamilie wurde mit der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft zum gesamtgesellschaftlichen Ideal: ab dem Moment, ab dem jeder Mann heiraten, also eine Frau haben durfte.

Im zweiten Teil des Buches beschreiben Sie den Queerfeminismus als mögliche Befreiungsstrategie. Was unterscheidet diesen von bisherigen Arten des Feminismus?

Die Bewegungen, die ich beschreibe, sind anti-identitär, insofern sie nicht von irgendeiner weiblichen Natur ausgehen, sondern von gar keiner natürlichen Wesenhaftigkeit von Männern oder Frauen, von Menschen. Sie nehmen die permanente gesellschaftliche Produktion der Geschlechterordnung und der Geschlechterverhältnisse in den Blick, durch Kritik an der Wirtschaftsweise, an Gesetzen und am Umgang der Menschen miteinander. Und sie scheuen sich gleichzeitig nicht, auch einzelne Menschen als Täter zu benennen und Profiteure der patriarchalen Ordnung anzuprangern: cis-Männer, die nicht bereit sind, ihre Verantwortung an der Überwindung der Zustände zu übernehmen.

Sie fordern neue Beziehungsformen, kritische Auseinandersetzung mit Männlichkeit und andere Arten des Liebens und Begehrens. Findet man in der Subversivität solcher neuen Formen schon Befreiung und können sie alleine Gesellschaft verändern?

Ich fordere das nicht - ich beschreibe solche neuen Formen: Die Bemühungen der Menschen, jene patriarchalen Rahmungen zu unterlaufen, die unsere Beziehungen und unsere Gesellschaft ordnen - wie zum Beispiel männlich/weiblich, Produktion/Reproduktion, Kultur/Natur oder staatlich/privat - und die weiterhin Ausschluss und Ausbeutung aufrechterhalten und Solidarität verhindern. Meinen Gesprächpartner*innen, die etwa in Zusammenhängen jenseits der Kleinfamilie leben, geht es nicht darum, die Norm ein bisschen zu erweitern, um selbst in ihr aufzugehen, sondern darum, das Prinzip der Normierung des Zusammenlebens aufzubrechen. Einer Normierung, die weiterhin in den bürgerlichen Staat eingeschrieben ist, der noch immer die patriarchal organisierte Kleinfamilie mit dem »Ehegattensplitting« im Steuerrecht stärkt.

Muten Sie den Menschen nicht sehr viel zu? Sie schreiben ja, warum sich in einer rasch ändernden Welt Menschen auf als natürlich geltende Kategorien wie Familie oder Geschlecht zurückziehen.

Die Frage ignoriert, dass die eigentliche Zumutung für sehr viele Menschen der Rückzug auf die alten, als natürlich gelten Kategorien ist: Dass das eine extrem gewaltvolle Zumutung ist, die da als Natur vermittelt wird. Wenn linke Kritiker*innen dem Queerfeminismus den Vorwurf machen, er würde »den Menschen« zu viel abverlangen, tun sie genau das, was sie ihm vorhalten: Sie handeln nach Partikularinteressen, die sie als das Universelle verkaufen.

Gegen welche Widerstände eines liberalen Feminismus müsste sich dieser Feminismus auch richten? Anders gefragt: Kann, wenn das Patriarchat stürzt, der Rest der Gesellschaft bleiben oder wird sie sich verändern?

Der Kampf für Geschlechtergerechtigkeit ist ein Kampf für Gerechtigkeit im Allgemeinen - da sind Frauenquoten in Unternehmensvorständen nicht dienlich. Der Postfeminismus der 1990er Jahre hat dazu geführt, dass auch Frauen und Queers sich heute disziplinieren dürfen wie Typen: Sie müssen kämpfen, Konkurrenz ausstechen und können dann Karriere machen. Angeglotzt oder angegrapscht werden sie trotzdem. Solange die binäre Geschlechterordnung weiterbesteht, bleiben Frauen und Queers das Andere, das im Zweifel objektiviert und nicht gleichermaßen als Subjekt wahrgenommen wird - und das Subjekt bleibt repressiv und ausbeuterisch. Diese Ordnung ist in die Köpfe und die Körper der Menschen eingeschrieben, genau wie in die Struktur des kapitalistischen Nationalstaats. Ihre sukzessive Überwindung ist auch nötig, um den Rest herauszufordern.

Carolin Wiedemann: Zart und frei.

Vom Sturz des Patriarchats. Matthes & Seitz. 218 S., geb., 20 €.

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