Die Dispute der Weißen

Zur Kritik des italienischen Philosophen Domenico Losurdo am westlichen Marxismus

  • Sabine Kebir
  • Lesedauer: 4 Min.

Der italienische Philosoph Domenico Losurdo hat sich seit 1989 um eine praktische Bilanz des Marxismus bemüht, und zwar aus mehreren Perspektiven. Seine wichtigste Folgerung: Die wesentliche Fortschrittsbewegung des 20. Jahrhunderts war nicht der in Stagnation geratene Sozialismus, der sich zeitweise und fast nur in der nichtwestlichen Welt staatlich verankern konnte, sondern waren die freilich begrenzten Erfolge der antiimperialistischen Kämpfe, die ebendiese Welt führte und weiter führen muss.

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Domenico Losurdo: Der westliche Marxismus. Wie er entstand, verschied und auferstehen könnte.
A. d. Ital. v. Christa Herterich. PapyRossa, 217 S., br., 19,90 €. •

Wie anders die Perspektive der imperialistisch bedrohten Völker als die des Westens ist, zeigt der vor drei Jahren verstorbene Wissenschaftler und Kommunist anhand der berühmten Antwort Sun Yat-sens 1911 auf eine Anfrage des späteren britischen Premiers Lloyd George, ob China im Kriegsfall an Englands Seite stünde: Die Dispute der Weißen interessierten China nicht, weil der Sieg des einen oder anderen Lagers für sein Land irrelevant sei. Und 1924 würdigte der sich keinesfalls als Marxist verstehende Sun Yat-sen die russische Oktoberrevolution von 1917 mit dem Verweis auf die brutale Ausrottung der »Rothäute Amerikas«, was auch anderen Völkern, so den Chinesen, drohe. In Russland aber seien plötzlich »150 Millionen Menschen slawischer Rasse aufgestanden, um sich dem Imperialismus zu widersetzen«, jubelte er.

Auch Mao sah westliche Konflikte aus fernöstlicher Perspektive. Für China hatte der Zweite Weltkrieg de facto schon 1931 begonnen und erreichte 1937 mit dem japanischen Massaker von Nanking, das 200 000 bis 300 000 Tote forderte, einen Höhepunkt. Anders als westliche Marxisten, für die der deutsch-sowjetische Nichtangriffsvertrag einen Verrat darstellte, der womöglich auf eine Wesensgleichheit mit dem Faschismus verwies, sah Mao in diesem »einen schweren Schlag für Japan und eine gewaltige Hilfe für China«. Die ebenfalls zu jener Zeit bereits durch japanische Expansionsgelüste bedrohte Sowjetunion hätte vorerst einen Zweifrontenkrieg vermieden und konnte China umso mehr unterstützen. So Maos Wertung.

Losurdo stellt nicht infrage, dass es sowohl in der Sowjetunion als auch in der Volksrepublik China schwere Menschenrechtsverbrechen gab. Aber er macht profilierten Vertretern des westlichen Marxismus im 20. und 21. Jahrhundert den Vorwurf, die Kraft des als wichtigstes Entwicklungshemmnis wirkenden Imperialismus zu wenig oder gar nicht in Rechnung zu stellen: Ernst Bloch, Walter Benjamin, Hannah Arendt, Michel Foucault, Antonio Negri, Michael Hardt, Slavoj Žižek und etlichen anderen.

Paradigmatisch für diese Selbstbezogenheit des westlichen Marxismus ist Losurdos Kritik an Bloch, der wie andere Vertreter des westlichen Marxismus den krassen Unterschied zwischen der rechtlichen Lage der Kolonisierten und den Proletariern in den »Mutterländern« ignoriert habe. 1923 habe jener lediglich beanstandet, dass das bürgerliche Recht formaler Gleichheit in der kapitalistischen Gesellschaft die reale Ungleichheit zwischen Proletariern und Kapitalbesitzern nicht aufhebe, sondern »ein bloßes Mittel der herrschenden Klassen« darstelle, »die ihre Interessen schützende Rechtssicherheit aufrechtzuerhalten«. Bloch meinte, dass US-Präsident Woodrow Wilson den Weg zum »endgültigen Frieden« ebne und Lenin sträflich den demokratischen Charakter Englands missachte. Die von Großbritannien kolonisierten Ägypter genossen jedoch tatsächlich nicht einmal die formale, vom bürgerlichen Recht garantierte Gleichheit.

Zitiert wird auch der vietnamesische Freiheitskämpfer Ho Chi Minh, der 1920 auf einem Sozialistenkongress in Frankreich erklärt hatte: »Die Annamiten [= Vietnamesen] haben nicht die gleichen Garantien wie die Europäer.« Selbst der wohlhabendste Kolonisierte habe weniger Rechte als der ärmste Angehörige einer Kolonialmacht. Der Kolonisierte könne jederzeit seiner Ländereien, seiner Güter und sogar seines Lebens beraubt werden.

1961, als die Pariser Polizei am helllichten Tage vor den Augen zahlreicher Bürger gnadenlos Algerier jagte, die für ihre Unabhängigkeit demonstrierten und von denen viele totgeschlagen wurden oder in der Seine ertranken, erschien Blochs »Naturrecht und menschliche Würde«. Auch hier habe sich der deutsche Philosoph des liberalen Kapitalismus darauf beschränkt, lediglich »formale und nur formale Gleichheit« anzubieten. Was gleichfalls lediglich für die Bürger des kolonisierenden Westens galt - und das nicht einmal überall. Losurdo erinnert daran, dass es in den USA für Indianer und Afroamerikaner lange keine Rechtsgleichheit gab. In seinen Kolonialismusbegriff bezieht er auch die neokoloniale Monroe-Doktrin der USA ein, die ihre Hegemonieansprüche gegenüber Lateinamerika sowie den Philippinen fixierte und deren Verhalten als Weltpolizist noch heute bestimmt.

Imperial drangsalierte Völker vermochten, so Losurdo, zunächst nur ihr Recht auf Leben und die Befriedigung ihrer elementarsten Bedürfnisse verteidigen. Die Ausweitung der Demokratie sei eine Illusion angesichts der Kriege, Kriegsdrohungen, Sanktionen und Boykotte gegen die ehemals kolonisierten und später neokolonial bedrohten Länder. Dies nicht zu erkennen, habe zu mangelnder Solidarität und sogar zur Unterstützung imperialer Unternehmungen des Westens geführt, die in den letzten Jahrzehnten als Demokratieexport getarnt wurden. Die Überwindung des tief verwurzelten Provinzialismus des westlichen Marxismus erfordere die Anerkennung des Imperialismus als Hauptfeind aller Menschen, so die Botschaft und das Vermächtnis von Domenico Losurdo.

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