Schuld und Sprache

Hat der Streit um eine geschlechtergerechte Sprache nie ein Ende?

  • Karsten Krampitz
  • Lesedauer: 7 Min.
Gendern: Schuld und Sprache

Ein befreundeter Schriftsteller schrieb unlängst auf Facebook, er habe bestimmte Dinge früher als normal empfunden: Cola aus Dosen etwa oder Bier am Vormittag. Heute sei ihm das peinlich. Aber vielleicht wird ihm auch dieser Spruch eines Tages peinlich sein. Es soll ja nicht wenige Leute geben, die ihren »Klapperschluck« am Morgen bitter nötig haben. Wir alle kennen Menschen, die sich erschöpft fühlen vom Wandel ihrer Lebenswelt: vom Kahlschlag der Nachwendezeit, der Digitalisierung, Globalisierung und dann noch Corona! Alles zusammen ein bisschen viel; Alkohol betäubt den Schmerz.

Was nun der besagte Freund bestimmt nicht leiden kann: aus dem Kontext heraus zitiert zu werden. Sein Aperçu zielte auf die Kritiker moderner Sprachentwicklung. Als er noch Cola aus Dosen getrunken habe, hieß es im Plural immer »Ärzte« und »Professoren« und »Regisseure«. Und »einerseits waren die Frauen mitgemeint, andererseits gab es die weiblichen Ausgaben praktisch nicht«. Seit vielen Jahren lese er Beiträge zum generischen Maskulinum beziehungsweise dazu, dieses nicht mehr zu verwenden. Die Argumente seien überaus ausgetauscht, »ich überfliege die entsprechenden Artikel nur noch auf der Suche nach den raren neuen Gedanken«.

Vielleicht sollte er sich noch einmal in Ruhe die alten Gedanken machen: Wie will er ohne die Unterscheidung von grammatischem und biologischem Geschlecht eine längere Erzählung schreiben? Zum generischen Maskulinum gehören auch geschlechterübergreifende Indefinitpronomina wie »niemand« und »jemand«, zumindest im Nominativ. Selbst der Schriftsteller kann nicht schreiben: Jemand, die dieses Buch liest. Oder: Irgendwer, die vormittags Bier trinkt und das lustig findet. (Es sei denn, der Verlag meint, es wird ein Bestseller.)

Und vielleicht denkt er noch einmal über die Prämisse nach, dass Menschen angeblich in Sprache denken. Denken wir nicht zuerst in Bedeutungen? Das Wort Krawatte steht nicht nur für ein Stoffband, sondern für ein Kleidungsstück, das Leute sich um den Hals binden. In der Schule war ich ein Lehrerkind - kein Lehrerinnenkind, obwohl meine Mutter in der Parallelklasse den Unterricht gab. In meiner Vorstellung waren Lehrer vor allem Frauen, ebenso die Kinderärzte. Nicht nur die Prämisse stimmt nicht, auch die Praxis. Oder denkt jemand wirklich, dass wir in diesem Jahr in Berlin eine Bürger:innenmeister:innenwahl haben werden? Schon mal versucht, Worte zu gendern wie Rednerpult oder Nazi oder Kanzleramt?

Sprache hat viele Aufgaben. Menschen müssen sich unterhalten können, schreien, aber auch flüstern, beten und Witze machen. Gibt es das schon: Poesie in gegenderter Sprache? Wenn eine Sprache auf Parteitagen funktioniert, heißt das nicht, dass sie auch alltagstauglich ist. Und sollte es der Linken nicht um den Einklang von Politik und Lebenswelt gehen? Und: Wird es der AfD nicht zu leicht gemacht, Vorschläge aus dem Mitte-Links-Spektrum zu denunzieren? Die Parlamentsreden der Rechten wie auch ihre TV-Statements sind regelmäßig durchsetzt mit Bemerkungen zum »Genderwahn«. Vielleicht liegt die Stärke der AfD auch darin, dass sie ihre Wähler nicht belehrt oder erzieht, dass sie aus ihnen keine Leistungsträger machen will und auch keine besseren Menschen.

Was wird sein, wenn dieser Streit kein Ende findet? Der Gedanke ist nicht unbegründet. Die Gender-Debatte währt nun schon gut drei Jahrzehnte. Was hat’s gebracht? Die Schriftstellerin Nele Pollatschek schrieb vor einiger Zeit im »Tagesspiegel«, das Durchsetzen geschlechtergerechter Sprache erscheine hierzulande manchmal als die eigentliche Kernaufgabe des Feminismus. »Mag sein, dass der Gender-Pay-Gap seit 25 Jahren ziemlich konstant bei rund 20 Prozent liegt - Deutschland ist Europavizemeister im Frauen-schlechter-Bezahlen, nur Estland ist schlimmer. Immerhin wird im sächsischen Justizministerium jetzt gegendert.«

Was, wenn dieser Streit kein Diskurs ist, sondern eine Art Stellungskrieg? Ein Grabenkampf, der die Verfechter*innen ebenso wie die Kritiker langsam mürbe machen wird, der in den nächsten 20 Jahren vor allem Energie und Zeitungsseiten kosten wird, aber zu keinem Ende führt. Was, wenn die Poststrukturalisten irren? Wenn Sprache keine Wirklichkeit schafft? Ein alter weißer Mann namens Karl Marx hat einmal geschrieben: »Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.«

Mein Freund, der Schriftsteller, meint, gesellschaftliche Veränderungsprozesse hätten noch nie Freude bei denen ausgelöst, die sich aus den Zonen ihrer Bequemlichkeit entfernen sollten. »Auch schon vor 50 (und 100) Jahren trafen die Feministinnen auf erbitterte Ablehnung und Widerstand.« - Mal abgesehen davon, dass alle emanzipatorischen Bewegungen ihre Erfolge durch Aktionen und konkrete Realpolitik erzielt haben, nicht durch Sprachdebatten, scheint das mit den Prozessen so eine Sache zu sein. Denken wir nur an den Nahostfriedensprozess, den Dauerlutscher unter allen Konflikten - was nicht zuletzt damit zu tun hat, dass keine der beiden Seiten völlig unrecht hat. Und die Genderdebatte dauert bereits verdächtig lange, die hört nicht auf.

Für das Sternchen oder den Doppelpunkt sprechen gute Argumente. Wer so schreibt und redet, schickt en passant solidarische Grüße an jene, die ihres Geschlechtes wegen benachteiligt oder diskriminiert werden. Venceremos! Aber es gibt auch eine Menge Gründe dagegen … Viele Menschen empfinden die Sprechpausen mitten im Wort als befremdlich; sie folgen weniger dem eigentlichen Inhalt, sondern achten auf weitere Sprechpausen. Innerlich baut sich bei ihnen der Groll auf, so dass sie für die gesagten Argumente nicht mehr erreichbar sind. Mir selbst passiert es sehr selten, dass Leute, die mich bevormunden und belehren, auch überzeugen.

»Wer gendert«, schreibt Nele Pollatschek, »tut das in der Regel, um auf sprachliche und gesellschaftliche Ungerechtigkeiten hinzuweisen.« Nur sei Gendern eben sexistisch. »Gendern ist eine sexistische Praxis, deren Ziel es ist, Sexismus zu bekämpfen.« Die Diversität der Menschen wird auf ihre geschlechtliche Identität reduziert. Pollatschek sagt, Deutschland sei besessen von Genitalien. »Denn mit wenigen Ausnahmen geht es beim Gendern um Genitalien, nicht notwendigerweise um die, die wir sehen, aber um die, von denen wir denken, dass sie da sind. Ginge es um Geschlechteridentitäten jenseits physischer Merkmale, könnten wir nicht einfach drauflos gendern, sondern müssten erst mal ein Geschlecht erfragen. Wer aber nicht explizit als trans Person gelesen wird, der wird nicht gefragt, sondern gegendert.« Und wenn die Deutschen gendern, so Nele Pollatschek, dann sagten sie damit: Diese Information ist so wichtig, dass sie immer mitgesagt werden muss, dass sie wichtiger ist als alle anderen Identitätsmerkmale wie Hautfarbe oder soziale Herkunft.

Ist das Geschlecht für uns wirklich die wichtigste Identitätskategorie? Sollten wir Menschen zuerst über ihre Genitalien definieren? - Nebenbei bemerkt: Ich habe einen verkrüppelten rechten Arm, der gut zehn Zentimeter zu kurz ist und (leider) meine Identität prägt. Die deutsche Sprache wird für mich nie gerecht sein. Wenn von Autoren die Rede ist, denken die meisten Menschen immer zuerst an Schreiber mit zwei gesunden, gleichlangen Armen. Die Realität aber ist eine andere, jedenfalls meine. Alle Unbill im Leben könnte ich auf meine Behinderung zurückführen - die Welt wäre böse, ungerecht und gemein. Und das ist sie auch. Nur muss sich mir gegenüber niemand entschuldigen, weil er zwei gleichlange Arme hat … - Und da war es wieder, das generische Maskulinum!

Was wird sein, wenn der Streit darum, um eine geschlechtergerechte Sprache, noch mal drei Jahrzehnte dauert? Hat die Partei Die Linke einen Plan? Leben wir nicht schon heute in einer Gesellschaft, in der die soziale Teilung durch die sprachliche Teilung zusätzlich zementiert wurde? Im Warteraum des Jobcenters werden alle möglichen Sprachen gesprochen, aber es wird ganz sicher nicht gegendert.

Zur Erinnerung: Ein halbwegs funktionierendes Gemeinwesen braucht sinnstiftende Klammern. Die Leute wollen wissen, warum sie Steuern zahlen, etwa für Menschen, die schon am Vormittag Bier trinken. Ein solcher Grund kann eine gemeinsame Sprache sein, eine gemeinsame Geschichte, Kultur und so weiter. Wie wird wohl die Zukunft aussehen?

Laut der Hegel’schen Dialektik folgt auf These und Gegenthese irgendwann die Synthese. Ein Anfang wäre etwas mehr Gelassenheit beim Thema. Und auch, dass niemand einem anderen Menschen sagt, wie er zu reden, zu schreiben und zu denken hat. Und vielleicht werden dann Frauen und Männer eines Tages wieder »Freunde«.

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