nd-aktuell.de / 20.03.2021 / Wissen / Seite 22

Raben der Ozeane

Smarte Tintenfische mit neurologischer Hardware für Intelligenz.

Michael Lenz

Kaum ein Restaurant, das heutzutage nicht Calamari fritti auf der Karte hat. Die können sehr lecker sein - wenn der in Ringe geschnittene Körper der Kopffüßer nicht gerade die Konsistenz von Gummiringen hat. Vermutlich machen sich aber die wenigsten Liebhaber des frittierten Tintenfischs Gedanken darüber, was sie gerade verzehren, außer dass Tintenfische glitschige, schaurig anzusehende Viecher mit langen Fangarmen und einem Sack voller Tinte sind, die sie bei Gefahr versprühen.

Dabei stecken die Kopffüßer nicht nur voller Tinte, sondern auch voller Überraschungen. Man könnte sagen, sie sind ob ihrer Intelligenz die Raben der Meere. Um einen neu entdeckten Aspekt der Fähigkeit der Tintenfische, bewusste Entscheidungen zu treffen, geht es in dieser Geschichte: die Selbstbeherrschung.

Forscher um Alexandra K. Schnell von der Universität Cambridge zeigen in einer jüngst im Fachblatt »Proceedings of the Royal Society B - Biological Sciences« veröffentlichten Studie, dass die Spezies Sepia officinalis - der zehnarmige Gemeine Tintenfisch - in der Lage ist, wie Menschen und andere Primaten sowie Raben und Papageien, für eine größere Belohnung auch mal länger zu warten. Statt sich auf ein bereit liegendes Standard-Leckerchen zu stürzen, üben sich die Tiere mit der Aussicht auf eine Delikatesse in Form einer schmackhaften Garnele in Geduld.

Im Experiment wurden die Tintenfische dafür in separate zweigeteilte Wasserbehälter gesetzt und vor die Entscheidung gestellt, sich entweder mit Standardfutter zufriedenzugeben oder aber durch kluge Zurückhaltung auf den Gourmetsnack zu warten. Sie lernten schnell, dass sich das Abwarten lohnt und hielten sich zwischen 50 und 130 Sekunden lang zurück.

Über den Grund dieser Fähigkeit zur Selbstkontrolle können die Wissenschaftler bisher nur spekulieren. Eine populäre These geht vom ausgeprägten Tarnverhalten der Tintenfische bei der Jagd aus. Sie können lange gut getarnt auf lohnende Beute warten, statt sich die nächstbeste Muschel, Schnecke oder Garnele zu schnappen. »Unsere Ergebnisse zeigen, dass Tintenfische Verzögerungen tolerieren können, um Lebensmittel von höherer Qualität zu erhalten, die mit denen einiger Wirbeltiere mit großem Gehirn vergleichbar sind«, heißt es in der Studie.

Die Frage, ob alle Tintenfischarten diese Fähigkeit der Selbstbeherrschung besitzen, beantwortet die Verhaltensökologin Schnell gegenüber dem »nd« mit wissenschaftlicher Vorsicht. »Die kurze Antwort lautet: Nein. Ohne Tests auf bestimmte kognitive Fähigkeiten bei anderen Arten von Kopffüßern können wir nicht davon ausgehen, dass sie das gleiche kognitive Merkmal besitzen.«

Schnell muss es wissen. Mit großer Hingabe, Faszination und Liebe hat sie ihr Forscherleben den Tintenfischen gewidmet. »Ihre beispiellosen Unterschiede zu anderen Tieren haben meine Faszination ausgelöst. Sie sind weich, kurzlebig, relativ unsozial und haben ein großes Gehirn. Insbesondere haben sie das größte Verhältnis von Gehirn zu Körpergröße aller wirbellosen Tiere. Aber sie zweigten vor mehr als 550 Millionen Jahren von der Wirbeltierlinie ab. Sie haben eine völlig andere Gehirnstruktur als die besser erforschten Säugetiere und Vögel. Trotzdem sind ihre Gehirne dem von Wirbeltieren mit großem Gehirn ähnlicher als dem der mit ihnen verwandten Weichtiere wie Schnecken und Muscheln. Wenn es jemals eine Gelegenheit gab, fremdartige Intelligenz zu studieren, dann ist diese die richtige.«

Auch wenn die Erkenntnis der zielgerichteten Fähigkeit zu Selbstbeherrschung der Sepia officialis nicht ohne entsprechende Forschung auf andere Tintenfischarten übertragbar ist, weiß die Wissenschaft seit Langem, dass sie kluge Tiere sind. Tintenfische können sich zum Beispiel aus Kokosnussschalen, die sie im Wasser finden, eine Behausung bauen. Der Oktopus Thaumaoctpus mimicus ist ein Meister darin, zu seinem Schutz vor Fressfeinden sein Aussehen so zu verändern, dass er einem giftigen Plattfisch oder einer Seeschlange zum Verwechseln ähnlich sieht. Der Octopus vulgaris versucht immer wieder aus Kieseln eine Mauer vor seine Höhle zu bauen.

Forscher aus Taiwan haben nachgewiesen, dass Tintenfische der Art Sepia pharaonis gar zählen können. Im Experiment wählten die Tiere den Behälter, der mehr Futter enthielt. Sie erfassten auf einen Blick bei bis zu fünf Beutetieren, ob die Zahl größer oder kleiner ist und sind damit smarter als Rhesusaffen oder bis zu einem Jahr alte Kinder.

Einzigartig auch ihr Körperbau, der nur eine Art Rückknochen, Schulp genannt, aufweist. Während die Bewegungsoption bei Wirbeltieren durch ihre starren Skelette begrenzt sind, können Kraken also ihre je nach Art acht oder zehn Arme völlig frei in alle Richtungen bewegen und sie gar für verschiedene Aufgaben getrennt einsetzen.

Sind Tintenfische also intelligente Wesen? »Das hängt davon ab, wie man Intelligenz definiert. Kraken sind flexible Lernende, haben sowohl ein Kurz- als auch Langzeitgedächtnis und zeigen ausgefeilte Verhaltensweisen. Sie könnten also als intelligent gelten. Viele dieser Verhaltensweisen warten jedoch auf detaillierte Analysen, und es ist daher noch zu früh zu sagen, ob diese Verhaltensweisen von komplexen Erkenntnissen beherrscht oder gesteuert werden, die wir bei Wirbeltieren mit großem Gehirn beobachten«, sagt Schnell. Es gebe noch viel über diese achtarmigen Weichtiere zu lernen, aber eines könne man schon jetzt sagen: »Sie besitzen auf jeden Fall die neurologische Hardware, um Intelligenz zu unterstützen.«