Nahurlaub trotz Notbremse

Politiker fordern bundeseinheitliches Vorgehen bei Coronaregeln. Impfgipfel beschließt Einbeziehung von Hausärzten

Eigentlich gilt: Ab einem Wert von mehr als 100 Neuinfektionen mit dem Coronavirus innerhalb der letzten sieben Tage müssen die gerade erst verfügten Öffnungen von Musseen und Läden unter vielfältigen Bedingungen wieder zurückgenommen werden. Auf diese »Notbremse« hatten sich die Ministerpräsidenten der Länder und Kanzlerin Angela Merkel (CDU) am 3. März geeinigt. Doch während etwa in Hamburg mit einem Wert von 107,7 am Wochenende alles bis auf das Nötigste wieder dichtgemacht wurde, verfügten Regionen wie etwa der Landkreis Elbe-Elster im Süden Brandenburgs zunächst Lockerungen, obwohl die Sieben-Tage-Inzidenz sich bereits wieder der 200er Marke näherte. Erst ab diesem Montag gilt dort wieder ein härterer Lockdown, nachdem der Wert auf über 237 angestiegen ist.

Derweil wird von dem erneuten Bund-Länder-Treffen an diesem Montag erwartet, dass ein verbindliches und einheitliches Vorgehen anhand bestimmter Parameter beschlossen wird. Dies soll den Aussagen beteiligter Politiker zufolge Regeln für Distanz- oder Wechselunterricht in Schulen und Maßgaben für Reisen zu Ostern betreffen.

Die Bundeskanzlerin stimmte die Bevölkerung bereits darauf ein, dass Lockerungen des monatelangen Lockdowns aufgrund der steigenden Infektionszahlen schon kurz nach ihrem Inkrafttreten wieder zurückgenommen werden müssen. Am Sonntagmorgen meldete das Robert Koch-Institut (RKI) 13 733 Neuinfektionen und 99 weitere Todesfälle in Zusammenhang mit dem Coronavirus binnen 24 Stunden. Im Vergleich zur Vorwoche waren das rund 3000 Infektionen mehr, aber 13 Prozent weniger Todesfälle. In zehn der 16 Bundesländer liegt die Sieben-Tage-Inzidenz bei 100 oder mehr Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner. In Schleswig-Holstein ist sie mit 60 am niedrigsten, in Thüringen mit 208 am höchsten.

Regierungschefs, Bundespolitiker und Mediziner warnten deshalb am Wochenende vor einer Zuspitzung der Lage und forderten Verschärfungen des Lockdowns. Die Chefin des Ärzteverbands Marburger Bund, Susanne Johna, sagte der »Neuen Osnabrücker Zeitung« (Samstag): »Es war unverantwortlich, in die dritte Welle und die Ausbreitung der Mutanten hinein auf diese Art zu lockern.« Den Kliniken drohe nun »die dritte Extremsituation binnen eines Jahres«.

Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) betonte, es gebe mit der Notbremse bereits ein Instrument, das wirke. Sie müsse nun »überall in Deutschland gleich und konsequent angewendet werden«, sagte er der »Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung«. Zugleich plädierte Söder dafür, »freier« zu denken: »Dazu gehört auch, so bald wie möglich den russischen Impfstoff Sputnik V zuzulassen, wenn er die Voraussetzungen erfüllt.« Er könnte künftig in Deutschland produziert werden.

Mehrere Regierungschef*innen sprachen sich am Wochenende dafür aus, Urlaub während der Osterfeiertage in knapp zwei Wochen zumindest im eigenen Bundesland zu ermöglichen, so Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) und seine Kolleginnen in Rheinland-Pfalz und Mecklenburg-Vorpommern, Malu Dreyer und Manuela Schwesig (beide SPD). Dreyer plädierte dafür, dass Menschen »bei uns wandern und in einem Gartenlokal einkehren können, statt nach Mallorca zu fliegen und am Ballermann zu feiern«. Vizekanzler Olaf Scholz (SPD) warnte vor einer großen Reisewelle, regte aber gegenüber »Bild am Sonntag« an, innerhalb eines Landes zu ermöglichen, dass Ferienwohnungen genutzt werden können.

Die Kommunen fordern mit Blick auf die laut einer aktuellen Umfrage rapide sinkende Akzeptanz der Maßnahmen in der Bevölkerung zuverlässigere Planungen etwa bei Tests und eine breitere Datenbasis neben den reinen Infektionszahlen. Städtetagspräsident Burkhard Jung (SPD) plädierte gegenüber der Funke Mediengruppe (Sonntag) dafür, Impfquote und die Belastung der Intensivstationen stärker zu berücksichtigen.

Auf einem »Impfgipfel« am Freitagabend hatten die Ministerpräsidenten und die Bundesregierung beschlossen, das Impfgeschehen zu beschleunigen. Dafür sollen nach Ostern auch Hausärzte impfen dürfen, allerdings vorerst nur in kleinen Mengen von etwa 20 Dosen pro Woche und Praxis. Sie sollten »erstmal mit etwa umgerechnet einer Impfsprechstunde pro Woche beginnen«, sagte Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU). Laut den Beschlüssen der Telefonkonferenz sollen die Praxen ihre »besonders vulnerablen Patientinnen und Patienten« zuerst gezielt einladen.

Den Hausärzten sollen zunächst pro Woche eine Million Dosen zur Verfügung stehen, den Impfzentren 2,25 Millionen. Ein Schub für die Praxen soll erst in der Woche ab dem 26. April mit 3,2 Millionen Dosen kommen. Dann hätten sie erstmals mehr Vakzin als die Impfzentren, die dann ebenfalls noch 2,2 Millionen Dosen erhalten sollen. Vor der Unterbrechung der Impfungen mit dem Vakzin des Herstellers Astra-Zeneca spritzten die Länder knapp 1,8 Millionen Impfdosen pro Woche.

Den Planungen zufolge kommt jetzt eine Sonderlieferung von 580 000 Dosen der Hersteller Biontech/Pfizer. Davon sollen 250 000 dafür genutzt werden, die Belieferung der Praxen schon in der Woche nach Ostern zu sichern. Extra-Dosen sollen das Saarland und Rheinland-Pfalz mit Grenzen zu Frankreich sowie Bayern, Sachsen und Thüringen wegen hoher Infektionszahlen in Tschechien erhalten.

Möglich wird der neue Impfplan dadurch, dass das Präparat von Astra-Zeneca nach einem vorsorglichen Stopp wieder eingesetzt werden kann. Die Europäische Arzneimittelbehörde hatte dies vergangenen Donnerstag befürwortet, es soll aber ein neuer Warnhinweis dazukommen. Dabei geht es um seltene Fälle von Blutgerinnseln in Hirnvenen. »Der Nutzen der Impfung überwiegt die gegenwärtig bekannten Risiken«, urteilte auch die Ständige Impfkommission. Merkel stellte sich unterdessen klar hinter die kurzzeitige Aussetzung der Impfungen mit dem Astra-Zeneca-Vakzin, die Spahn Kritik eingebracht hatte.

Auch die Praxen sollen sich grundsätzlich daran halten, dass ältere und besonders gefährdete Menschen Vorrang bei der Impfung erhalten. Sie sollen die Vorgaben aber »flexibel anwenden«, erklärten Bund und Länder. Spahn rief die Länder auf, auch chronisch Kranke zu schützen. Der SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach mahnte, das Risiko, an Covid-19 zu versterben, sei für einen 80-Jährigen »600 Mal so hoch wie für einen 30-Jährigen«. Daher sei er skeptisch gegenüber einer Lockerung der Prinzipien der Impfreihenfolge. Kritik ruft zum Beispiel die Praxis in Nordrhein-Westfalen hervor, Lehrkräfte vorrangig zu impfen.

Laut Spahn warten unterdessen mittlerweile nahezu alle Bundesländer mit der Vergabe der zweiten Dosis so lange wie möglich - bei den Präparaten von Biontech/Pfizer und Moderna sechs, bei Astra-Zeneca zwölf Wochen. Mediziner sehen diese Verzögerung sehr kritisch, weil sie die Wirkung der Impfung einschränken könnte.

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