Versprochen und vertagt

Laut EuGH muss die Arbeitszeit komplett erfasst werden.

  • Simon Poelchau
  • Lesedauer: 4 Min.

Am 14. Mai 2019 schrieb der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) Arbeitsrechtsgeschichte. Die EU-Länder müssten die Unternehmen verpflichten, die tägliche Arbeitszeit ihrer Angestellten zu erfassen, urteilten die Richter*innen in Luxemburg. Die Erfassung bloß von Überstunden reiche nicht aus. »Die objektive und verlässliche Bestimmung der täglichen und wöchentlichen Arbeitszeit ist nämlich für die Feststellung, ob die wöchentliche Höchstarbeitszeit einschließlich der Überstunden sowie die täglichen und wöchentlichen Ruhezeiten eingehalten worden sind, unerlässlich«, teilte der EuGH mit.

Vorangegangen war ein Rechtsstreit in Spanien zwischen der Gewerkschaft CCOO und einer Tochtergesellschaft der Deutschen Bank. Die Gewerkschaft wollte, dass die Bank die Arbeitszeit ihrer Angestellten erfasst. Zunächst gab ihr eine Aufsichtsbehörde recht. Weil die Bank dennoch kein Arbeitszeiterfassungssystem einführte, drohten ihr Sanktionen. Das oberste spanische Gericht Tribunal Supremo, das mit den deutschen Bundesgerichten vergleichbar ist, lehnte diese jedoch ab. Das spanische Arbeitsrecht enthalte nur die Verpflichtung, eine Liste der Überstunden, nicht aber der normalen Arbeitszeit zu führen. Weil ein anderes hohes spanisches Gericht sich auf die Seite der Gewerkschaft stellte, landete der Fall vor dem EuGH.

Die EuGH-Entscheidungen gelten nicht nur für ein Land, sondern für die gesamte EU, darum war auch hierzulande die Aufregung über das Urteil groß. Denn im Paragrafen 16 des deutschen Arbeitszeitgesetzes steht, dass lediglich Überstunden erfasst werden müssen. Von einer Erfassung der gesamten Arbeitszeit, also mit Beginn, Ende und Pausen, ist nicht explizit die Rede. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil versprach noch am Tag der Verkündung, die Vorgaben umzusetzen. Das Urteil sei eine »wichtige Entscheidung für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Europa und in Deutschland« und sorge für sozialen Schutz, so der SPD-Politiker. »Das muss auch umgesetzt werden.« Die Aufzeichnung der Arbeitszeit sei notwendig. Doch bisher hat Hubertus Heil sein Versprechen nicht eingelöst.

Seit Beginn der Pandemie ist es recht still geworden bezüglich des Themas Arbeitszeiterfassung. »Der ganze Gesetzesänderungsprozess wurde durch Corona gestoppt«, erzählt Nils Kummert, Fachanwalt für Arbeitsrecht. Er berät und vertritt Betriebsräte. Arbeitszeiterfassung ist da ein wichtiges Thema. Dies ist auch in Zeiten von pandemiebedingtem Massen-Homeoffice so: Wer kontrolliert, wann gearbeitet wird? Wann beginnt die Arbeitszeit und wann die Freizeit? Schließlich führt es tendenziell zu einer Entgrenzung der Arbeitszeit, wenn der Laptop auf dem Küchentisch und das Diensthandy immer griffbereit sind.

Dass das Thema Arbeitszeiterfassung wegen der Corona-Pandemie von der Bundesregierung auf die lange Bank geschoben wurde, dürfte die Arbeitgeber*innen freuen. Schließlich waren sie von dem EuGH-Urteil alles andere als erfreut. »Wir Arbeitgeber sind gegen die generelle Wiedereinführung der Stechuhr im 21. Jahrhundert«, ätzte im Mai 2019 eine Sprecherin des Arbeitgeberverbands BDA. Auf die Anforderungen der Arbeitswelt 4.0 könne man nicht mit einer Arbeitszeiterfassung 1.0 reagieren.

Die Arbeitgeber*innen stört an dem EuGH-Urteil vermutlich weniger, dass es angeblich nicht in die Zeit passt, sondern viel mehr, dass es sie verpflichtet, genauer hinzuschauen, wie viel ihre Beschäftigten arbeiten. So leisteten die Arbeitnehmer*innen hierzulande laut einer kurz nach dem Richter*innenspruch veröffentlichten Studie des Pestel-Instituts im Auftrag der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) im Jahr 2018 knapp 2,15 Milliarden Überstunden. Davon waren 1,01 Milliarden Überstunden unbezahlt. Damit hätten die Beschäftigten den Unternehmen bundesweit gut 25 Milliarden Euro »geschenkt«, so damals der Leiter des Pestel-Instituts, Matthias Günther.

Unternehmensnahe Fachleute für Arbeitsrecht haben behauptet, das EuGH-Urteil gelte erst, wenn die Bundesregierung das Arbeitszeitgesetz entsprechend geändert hat. Sie spielen also auf Zeit: Solange es keine Reform gibt, ist es für Unternehmen einfacher, undokumentierte Überstunden von Beschäftigten zu verlangen. Auf der anderen Seite stehen angestelltennahe Jurist*innen. Zu ihnen gehört auch Nils Kummert. »Auch wenn der EuGH dazu in der Entscheidung vom 14. 5. 2019 schweigt, gibt es gute Gründe, dass die Arbeitgeber*innen jetzt schon verpflichtet sind, die Arbeitszeiten gänzlich zu erfassen«, sagt der Anwalt.

Zu diesem Ergebnis kommt auch ein Gutachten des gewerkschaftsnahen Hugo-Sinzheimer-Instituts für Arbeitsrecht. »Die Entscheidung ist bereits jetzt zu beachten«, heißt es darin. Begründet wird dies mit den Vorgaben der Grundrechtecharter der EU zu gerechten und angemessenen Arbeitsbedingungen, die Vorrang vor nationalem Recht haben. So entfalte die Entscheidung »bereits jetzt verbindliche Wirkung in Deutschland«, heißt es in dem Gutachten. Der EuGH habe keine Übergangsphase für die Umsetzung der Vorgaben gestattet und auch keinen Vertrauensschutz gewährt. »Das ändert allerdings nichts daran, dass der Gesetzgeber wegen eines ansonsten bestehenden Transparenzverstoßes die gesetzlichen Regelungen in Deutschland anpassen muss.«

Auch das Arbeitsgericht Emden ist der Auffassung, dass das Urteil des EuGH bereits jetzt für Arbeitgeber*innen gilt. »Die Vorgaben aus dem genannten Urteil des EuGH sind namentlich von der Fachgerichtsbarkeit, der Arbeitsgerichtsbarkeit, im Wege europarechtkonformer Auslegung des nationalen Rechts umzusetzen«, urteilte das Gericht vergangenen September im klassischen Jurist*innendeutsch. »Andernfalls würde das Gebot der möglichst effektiven Umsetzung des Europarechts und der Rechtsprechung des EuGHs nicht hinreichend erfüllt.«

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