Rückschnitt ohne Rücksicht?

ein komplizierter Fall: Nadelnde Kiefer beschäftigt Bundesgerichtshof

  • Anja Semmelroch
  • Lesedauer: 3 Min.

Eine ausladende Kiefer an der Grundstücksgrenze, ein von den Nadeln genervter Nachbar und ein gesetzlich verankertes Recht zur Selbsthilfe: Diese drei Dinge muss der Bundesgerichtshof (Az. V ZR 234/19) in einem Streitfall aus Berlin unter einen Hut bringen.

Darf der Nachbar die überhängenden Äste einfach abschneiden, selbst wenn der Baum deswegen eingeht? Eine Frage, auf die es keine einfache Antwort gibt.

Die Schwarzkiefer ist um die 40 Jahre alt. Ihre breite Krone ragt seit mindestens zwei Jahrzehnten in Nachbars Garten - inzwischen immerhin um fünf bis acht Meter. Darüber gehen allerdings die Meinungen auseinander.

Den Nachbarn stören die abfallenden Zapfen und Nadeln. Für den Prozess hat er mit Fotos dokumentiert, was für Haufen da so in einem Monat zusammenkommen. Die Eigentümer der Kiefer hatte er vergeblich zum Rückschnitt aufgefordert. Am 21. Oktober 2017 griff er schließlich selbst zur Astschere. Daraufhin verklagten die Eigentümer den Nachbarn. Sie fürchten um den sicheren Stand des Baumes.

Am Amtsgericht Pankow/Weißensee und am Berliner Landgericht hatten die Nachbarn damit Erfolg. Das Landgericht ging davon aus, dass das Selbsthilferecht nur greift, wenn es »eine direkte und unmittelbare Beeinträchtigung durch überhängende Äste oder Zweige« gibt. Die Kiefer ist im unteren Bereich aber sehr schlank gewachsen.

Parallel hatte allerdings der BGH im Fall einer Krefelder Douglasie entschieden, dass der Paragraf 910 im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) auch bei abfallenden Nadeln oder Zapfen einschlägig ist. Auch hier gilt also, dass der Nachbar herüberragende Zweige »abschneiden und behalten« kann, wenn sie die Benutzung seines Grundstücks beeinträchtigen, wie es in der BGB-Vorschrift heißt. Damit ist das Landgerichtsurteil hinfällig. Es braucht eine neue Lösung.

Fakt ist, dass die Kiefer seit jeher zu nah an der Grundstücksgrenze steht. Einen Anspruch auf Beseitigung hätte es laut Berliner Nachbarrechtsgesetz nur in den ersten fünf Jahren gegeben. Aber: Ästeabschneiden ist keine Beseitigung, wie die Vorsitzende BGH-Richterin Christina Stresemann sagt. Beim Selbsthilferecht gebe es keine Verjährung. Was aber, wenn der Baum deshalb stirbt?

Die Berliner Baumschutzverordnung hilft nicht wirklich weiter. Sie schützt alle Waldkiefern, die 1,30 Meter über dem Boden einen Stammumfang von mindestens 80 Zentimetern haben. Von Schwarzkiefern steht dort nichts. Und ob sie die nötigen Maße hätte, konnte niemand sagen.

Hätte der Nachbar sich einfach viel früher wehren müssen? Und jetzt ist es dafür endgültig zu spät? Das kann nicht sein, meint seine Anwältin Barbara Genius. »Der Baum wächst ja. Und er wächst immer weiter.« Aus ihrer Sicht müssen die Äste zumindest auf der jetzigen Länge gehalten werden können. Den Einwand des Eigentümers, die Kiefer verliere ihre Standfestigkeit, lässt die Anwältin nicht gelten. »Dann muss der Eigentümer halt auf der anderen Seite auch etwas abschneiden.«

Für die Gegenseite kommt das nicht in Frage. Der Baum dürfe nur beschnitten werden, wenn gesichert sei, dass er das überlebt, sagt der Vertreter der Eigentümer, Rechtsanwalt Peter Baukelmann. »Sonst könnte man ihn gleich fällen.« Dies aber käme einer Beseitigung gleich. Und der Anspruch darauf sei nun einmal vor langer Zeit erloschen.

Muss also ein Baumsachverständiger zu Rate gezogen werden? Im Zweifel ja, meint Peter Baukelmann. Völlig unpraktikabel, meint Genius. Ihr Mandant könne doch nicht jedes Jahr einen Sachverständigen kommen lassen.

Auch die Richter denken über einen Mittelweg nach - also: Rückschnitt ja, jedoch nur so weit, wie der Baum es verträgt. Aber auch sie fragen sich, wer das feststellen soll. »Es ist schwierig«, sagt Stresemann. Nun will der zuständige Senat den Fall ohne Zeitdruck gründlich beraten. Das Urteil soll am 11. Juni verkündet werden. dpa/nd

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