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Der Tesla-Unfall

Spaß und Verantwortung

  • Olga Hohmann
  • Lesedauer: 4 Min.

Schon lange habe ich die Neigung, mich in Unfälle zu verwickeln. Abgesehen von ein paar spektakulären, alkoholinduzierten Fahrradstürzen (die Folgen: erst ein dreifacher Kieferbruch nach einem Kreuzberger Kneipenabend und dann, einige Jahre später, eine Schädelfraktur auf dem Rückweg von der »Paris Bar«) gibt es noch diverse Kollateralschäden, die ich mir in ähnlichen Situationen der Überschreitung zugezogen habe: Zum Beispiel damals, als ich mich bei einem Rave auf einer Kirschplantage hinter einem Busch zum Pinkeln versteckt hatte - und dabei in Kontakt mit einem Bienennest gekommen war. Das Ergebnis: Dreißig Bienenstiche und eine gute Woche lang Fieber. Wenige Tage später kam der Krankenwagen ins Freibad gefahren, weil ich mich, aus Gründen des jugendlichen Body Shaming, morgens um elf Uhr so sehr mit Piccolo Sekt vom Kiosk betrunken hatte, dass ich mit Gesicht zur Wiese eingeschlafen und auch durch starkes Rütteln nicht wachzubekommen war.

Die Liste meiner Unfälle setzt sich endlos fort - und nicht alle haben mit Rauschmitteln zu tun: Erst im vergangenen Herbst musste ich eine Woche lang das Bett hüten, weil ich bei einem Filmdreh eine ganze Gelatinetorte (die eigentlich nur als Requisite gedacht war) aufgegessen hatte. Kurze Zeit vorher hatte ich, nachdem ich minutenlang ohne zu blinzeln in einen Tageslichtscheinwerfer geschaut hatte, ebenfalls für eine knappe Woche lang Sterne gesehen - zusätzlich konnte ich die Farben Gelb und Blau nicht mehr voneinander unterscheiden. Weitere Fressattacken ungesunden Ausmaßes kommen wöchentlich dazu.

Es scheint also so, als ob ich eine Affinität für Überschreitungen habe - dafür, mich in Situationen der schmerzhaften Intensität zu begeben. Und trotz der Verletzungen, merke ich ganz deutlich, dass mir etwas fehlt, wenn sich jene Intensität für längere Zeit nicht einstellt.

Mein Psychoanalytiker hat eine neue These, die meine wiederholten Grenzhandlungen zu bestätigen scheinen. Im Gegensatz dazu, dass das Subjekt gemeinhin als »Mängelwesen« beschrieben wird, welches sich durch den ihm inhärenten Riss konstituiert, geht er davon aus, dass uns Subjekten in Wirklichkeit nichts »fehlt«, sondern wir eigentlich »zu viel« haben. »Schauen Sie sich doch mal ein schreiendes Baby an«, sagt er, »das schäumt doch über vor Energie - und bringt alle anderen um sich herum in Bewegung«.

Mein letzter großer Absturz vor dem Lockdown war bei der Geburtstagsparty eines alten Freundes. Schon beim Hereinkommen gab er mir eine neonpinke Pille mit einem Logo, das so ähnlich aussah wie das von Tesla. Er las mir vor, wie er mit seinem (leicht paranoiden) Dealer in verschlüsselter Form über die Wirkung kommunizierte: »Wurden diese Teslas schon mal Probe gefahren?«, fragte er. »Ja, es dauert eine Weile, sie aufzuladen, aber dann ist die Beschleunigung stufenlos.«

Für mich war die Beschleunigung ganz eindeutig nicht »stufenlos«. Ich erinnere mich zwar an fast nichts mehr, aber mein Freund C. beschrieb meinen Zustand im Nachhinein als »Es war nicht mehr süß«. Er sagte auch, dass ich Ähnlichkeit mit »einer Piratin, die gerade von ihrem Raubschiff kommt« hatte: Offenbar war mehrere Stunden lang nur eines meiner Augen offen gewesen. Später sah ich ein Foto, auf dem ich in einer Pelzjacke auf einem großen Haufen Menschen liege, neben mir ein nicht identifizierbarer nackter Hintern.

Natürlich ist es auch Voyeurismus, der Menschen mittlerweile dazu bringt, enttäuscht zu sein, wenn ich meiner gesellschaftlichen Pflicht, auf einer Party mit meinem Grenzverhalten für Unterhaltung zu sorgen, nicht nachkomme. Selten aber, muss ich zugeben, werde ich dieser Aufgabe nicht gerecht. Trotzdem, Voyeurismus hin oder her - ich würde nie mit jenen Individuen unserer Generation tauschen wollen, die eine Freundin und ich vor Jahren als »Klarkommer« oder auch »Zurechtkommer« bezeichnet haben. Nach dem Tesla-Unfall legte sich eine Gelassenheit über mich, die ich vermisst hatte - eine Ruhe nach dem Sturm, die sich nur nach ebensolchen Überschreitungen einstellte. Es ist in diesen Situationen ununterscheidbar, ob ich dann die raubende Piratin bin oder diejenige, die ausgeraubt wurde - und heimlich darüber erleichtert ist.

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