Wie man ein Weltbürger wird

Woraus sollen wir den Kaffee trinken? Eine kleine Tassenkunde als Zeitungsgeschichte

Alle Tassen im Schrank des »nd«: Die älteste ist die mit der »50«, die jüngste ist die schwarze.
Alle Tassen im Schrank des »nd«: Die älteste ist die mit der »50«, die jüngste ist die schwarze.

Das »nd« musste erst 50 Jahre alt werden, um sich seine erste eigene Tasse zu gönnen. Eine Kaffeetasse als Werbeartikel zum Jubiläum 1996. Man könnte sagen, die Zeitung hat es sich von der PDS abgeschaut. Die hatten schon welche, für den Wahlkampf. Auch andere Zeitungen begannen in den 90ern mit Tassenwerbung. Vorher war das nicht in Mode.

Genau genommen geht es auch nicht um Tassen, sondern um Becher. Auch so ein 90er-Jahre-Ding: Plötzlich konnte man beim Bäcker im Stehen Kaffee trinken. »Möchten Sie eine Tasse oder einen Cup?«, wurde man da gefragt. Beim »nd« heißen die Becher jedenfalls weiterhin Tasse. Hier zählt eine andere Unterscheidung. Gar nicht mal die zwischen DDR und BRD, sondern die Frage: Wird die Abkürzung der Zeitung groß- oder kleingeschrieben? Der Epochenumbruch war 2011: Ab da nannte das ND sich »nd«. Da gab es ein neues Layout und neue Schwerpunkte. Das kann man auch an den Tassen ablesen.

Bis 1990 schrieb sich der Titel in Versalien. Von dieser »antiquierten Mächtigkeit«, wie es der Verlagsleiter Olaf Koppe ausdrückt, wollte die Zeitung nach dem Ende der DDR weg. Deshalb wählte sie als freundliche »Hausfarbe« auch eine Art Türkis. Die offizielle Bezeichnung ist HKS 51.

Auf der ersten Tasse von 1996 ist die Jubiläumszahl 50 in dieser Farbe gehalten. Drum herum ein paar Schlagzeilen aus der Zeitung. Eine davon ist eine Frage: »Wie wird man heute ein Weltbürger?« Das war die Überschrift zu einem Text von Rudolf Bahro, ein Auszug aus seinem Essay »Das Buch von der Befreiung aus dem Untergang der DDR«. Und genau das ist ja auch ein Ansatz dieser Zeitung, ihres Überlebens, ihrer Selbstreflexion und ihres Weitermachens.

Die anderen Schlagzeilen auf der ersten Tasse waren etwas profaner gehalten. Sie lauteten unter anderem: »Frankreichs Linke im Schulterschluss« (über die französische KP, damals noch bei fast 9 Prozent), »Ost-CDU noch nicht auf Bonner Linie« und »Bestsellerliste Ost März 1996« (auf den ersten drei Plätzen: Christa Wolf, Thomas Brussig und Hera Lind). Schaut man sich diese Tasse heute an, weiß man nicht so recht: Ist sie sehr modern oder sehr altertümlich? Jedenfalls sieht man eine Collage aus ND-Schlagzeilen, die von der Chefredaktion abgenickt werden musste und dann im Siebdruck hergestellt wurde, wie Christl Schindler erzählt, die jahrelang im nd-Marketing tätig war und mit diesen Tassen auf Veranstaltungen und Buchmessen fuhr, wo sie nd-Stände aufbaute und betreute. Die Tasse kostete 7 DM.

Die zweite Tasse kam 1998 raus und sah fast genauso aus, nur dass diesmal zwischen den Schlagzeilen Karl Marx mit roter Weste herumstand. Es war die sehr bekannte Karikatur von Roland Beier, die er 1990 gezeichnet hatte: Marx hat die Hände in den Hosentaschen, guckt so, als könnte er kein Wässerchen trüben, und sagt: »Tut mir leid Jungs! War halt nur so ’ne Idee ...« Auf der Tasse fehlt der Spruch, dafür hat Marx unter den linken Arm ein ND geklemmt. 1998 war Marxens 180. Geburtstag. Eine der Schlagzeilen auf der Tasse lautet: »Aufstehen für eine andere Politik«. Die Vorlage war nun digital, eine Corel-Draw-Datei.

Die dritte Tasse erweckt heute den Eindruck, als wäre sie die älteste, denn sie ist in einer Schreibmaschinen-Typografie gehalten. Keine Schlagzeilen, sondern die Rubriken der Zeitung hintereinanderweg getippt, wie frisch aus dem Ticker gerissen: »Nord-Süd-Forum +++ Umwelt +++ Wirtschaft ...« Aber unten steht ein Hinweis auf eine Mail- und eine Internetadresse. Und in Rot der Spruch: »Der Inhalt macht’s«.

Richtig alte Tassen gibt es im FMP1, dem nd-Haus, aber auch. Das sind die wahren Raritäten in manchen Schränken: Echte Tassen, keine Becher, mit Untertassen, auf denen unten drunter »ND« steht. Das waren keine Werbeartikel, sondern Gebrauchsartikel. Sie stammen noch aus der alten Kantine, also ganz klar aus der Zeit vor 1989. Damals warb das ND noch mit Windrädern und Radfahrermützen. Und für große Events wie die Friedensfahrt, die ja vom ND-Sportchef Klaus Huhn mitorganisiert wurde, gab es Biergläser mit dem Aufdruck »ND«.

Vom Schwips zum Wach, so ließe sich die sogenannte Wende auch beschreiben: vom Bier zum Kaffee. Naja, stimmt nicht ganz: Mit Beiers Marx-Karikatur wurden auch Etiketten für Weinflaschen und Schnapsfläschchen für das ND-Merchandise bedruckt. Es gibt auch eine große rote Tasche, auf der steht: »Brille, Handy, Zeitung ... alles drin«. Auch wenn man damit einen vollen Bierkasten transportieren kann, wie Rainer Genge von der Abteilung Verlagsorganisation versichert.

Eine Glastasse gab es aber auch, das war die vierte Tassengeneration. Ganz in Türkis mit dem Aufdruck: »Neues Deutschland - Die Linke unter den Großen«. Damals gab es noch keine Linkspartei, aber 60 000 Abos. Das ND war die größte linke Zeitung, wenn man mal die »Frankfurter Rundschau« außen vor lässt. Doch der Kaffee schmeckte nicht aus dieser Glastasse, sagt Christl Schindler. Eigentlich war es auch nur ein Restposten, den die Stadtwerke Magdeburg noch übrig hatten - genau in der Hausfarbe Türkis des ND.

Und dann kam 2005 die erste Tasse in Porzellan. Daraus schmeckte der Kaffee viel besser, meint Schindler. Die drei ersten Tassengenerationen waren alle aus Keramik. Die Porzellantasse kostete 7 Euro. Merke: Am ND-Stand werden nur die Zeitungen verschenkt, nicht die Merchandise-Artikel. Türkis war hier nur der Untertitel »Sozialistische Tageszeitung«, ganz so wie auch im Printprodukt neu eingeführt. Die Parole lautete: »Heiße Themen - starker Inhalt«. 2005 war das vielleicht etwas sehr 70er-Jahre-artig formuliert. Warum nicht starke Themen, heißer Inhalt?

Moderner war die fünfte Tassengeneration, ab 2011, als aus dem ND das »nd« geworden war. Auf der Tasse (auch wieder Porzellan) ist eine Aufzählung zu lesen, eine Art Bewusstseinsstrom, der für den Kaffee wie für die Zeitung gelten kann: »anregend, munter machend, Tradition, brühwarm am besten, wirkt direkt, nicht nur schwarz-weiß, gut für den Kopf, belebend, viel mehr drin als man glaubt«. Parole: »Druck von links«.

Als 2018 »nd.DieWoche«, die neue Wochenendausgabe eingeführt wurde, gab es keine Tasse, sondern eine Packung mit Espresso-Bohnen zum Selberkochen. Warum? Weil man an eine Tasse kein Abo-Formular anheften kann. Die jüngste nd-Tasse ist die Muckefuck-Tasse, eingeführt 2020. Ganz schwarz wie der starke Kaffee ohne Milch, auch wenn Muckefuck kein Kaffee ist, sondern der Online-Newsletter für Berlin. »Schmeckt nicht jeder*m« steht darauf; gibt es auch als Thermobecher, so groß wie eine Getränkedose. Beim Thermobecher mit seinem Verschluss muss man an eine Handgranate denken. Bombe - so sagen die Jungen. Und meinen es gut.

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