Soziale Kraft gegen die Ungleichheit

In den Wirren der Coronakrise wird die Schule geschätzt wie lange nicht

Die Corona-Pandemie bestimmt schon lange den Alltag in den Schulen und beeinträchtigt insbesondere die pädagogische Arbeit. Das belastet viele Schüler*innen, aber nicht alle gleichermaßen. Kinder und Jugendliche, die sich selbst organisieren können, seien jetzt im Vorteil, sagt Wolfgang Schimpf. Sie bräuchten wenig Unterstützung, kämen schnell mit den sich ändernden Begebenheiten zurecht, erklärt der Leiter des Max-Planck-Gymnasiums in Göttingen am Telefon. »Die Coronazeit ist wie ein vorweggenommener Zwang zur Selbstständigkeit - das ist für manche aber auch eine Chance.« Viele seiner Abiturient*innen sieht er ausreichend auf die derzeit stattfindenden Abschlussprüfungen vorbereitet.

Doch nicht alle der rund 950 Schüler*innen an dem Gymnasium kommen mit dieser Ausnahmesituation zurecht. Etwa 20 bis 30 Prozent der Kinder und Jugendlichen, schätzt Schimpf, bräuchten eigentlich mehr Unterstützung; ihnen fehle ein ordnender Rahmen des Schulalltags. »Die Schere zwischen denen, die gut mit der Situation zurechtkommen, und denen, die mehr Förderung bräuchten, geht auseinander«, so seine Beobachtung. Die Herkunft spielt bei dieser zunehmenden Ungleichheit eine große Rolle. Kinder und Jugendliche, die zu Hause unvorteilhafte Bedingungen haben, sei es, weil ihnen der Platz zum Lernen fehlt oder weil die Eltern ihnen nur wenig helfen können, sind benachteiligt. Einigen fehle der Rückhalt in ihrem privaten Umfeld, sagt Schimpf.

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Der Schulleiter ist nicht allein mit seinen Beobachtungen. Was fehlt, sind wissenschaftliche Studien. Daher hilft hier ein Vergleich weiter: Man wisse, dass die Bildungsschere in den Sommerferien auseinandergeht, erklärte der Soziologe Aladin El-Mafaalani unlängst auf einer Veranstaltung. Das lasse sich nun auf den Distanzunterricht übertragen. Wenn die Schule fehlt, dann behindere dies vor allem die ohnehin benachteiligten Schüler*innen in ihrer Entwicklung.

Dieser Herkunftseffekt ist nicht neu, wird aber in der Coronakrise für viele noch einmal deutlicher. Schulen erleben auch deshalb derzeit eine auffallende Wertschätzung. Denn es wird erkannt, dass Schule mehr ist als eine Bildungs- und Erziehungsanstalt, in der es um Wissen und Können geht. Die Einrichtungen werden nun stärker auch als soziale Orte wahrgenommen, wo die Schüler*innen pädagogisch begleitet werden und Austausch mit Gleichaltrigen haben.

Der Bildungsforscher Marcel Helbig betont im Gespräch mit dem »nd«, dass auch soziales Verhalten erlernt werden müsse und dass dies wichtig für die Entwicklung der Heranwachsenden sei. Die derzeit ständig wechselnden Abläufe in der Schule, wo der Präsenzunterricht an die Inzidenzzahlen gekoppelt ist, sei natürlich ein schwieriges Umfeld für die Schüler*innen. Seit Monaten fehle den Schulen die nötige Struktur und ein kontinuierlicher Unterricht.

Ilka Hoffmann aus dem Vorstand der Gewerkschaft GEW hat jedoch beobachtet, dass viele Lehrer*innen sich schnell auf die Situation eingestellt und neue Konzepte erprobt hätten. »Tatsächlich haben die Lehrkräfte jetzt einen ganz anderen Zugang zu den Kindern«, erzählt sie dem »nd«. »War es zuvor ein Klassenverbund, in dem gelernt wurde, so erleben die Pädagog*innen die Kinder und Jugendlichen jetzt zu Hause in ihrem Umfeld.« Lehrkräfte könnten hier individuell auf die Schüler einwirken und sie unterstützen, sagt Hoffmann. Dagegen erscheint ihr das Agieren der Politik und der Schulbehörden träge. »Bisher kommt kein großer Wurf, es gibt keine neuen Ideen. Alles soll so weiterlaufen wie bisher.«

Dabei ist offensichtlich, dass angesichts des massiven Unterrichtsausfalls Konzepte entwickelt werden müssen, um den Schüler*innen mehr Zeit zu geben, damit sie die Lernrückstände aufholen können. »Die bisher angedachten Fördermaßnahmen werden nicht ausreichen; damit wird eine wichtige Weichenstellung verpasst«, kritisiert der Bildungsforscher Helbig.

Die gesellschaftlichen Folgen können fatal sein. So befürchten Jugendämter, dass sich die Zahl der Schulabbrecher*innen durch die Corona-Pandemie verdoppeln wird. »Es wird viele geben, die es nicht schaffen«, warnt auch Helbig. »Diesen Schülern und Schülerinnen werden die Nachhilfeprogramme der Länder nicht mehr helfen.« Sein Appell an die Politik: Das Augenmerk viel mehr auf jene zu richten, die nicht gut durch die Pandemie kommen.

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