Eine deutsche Diagonalkarriere

Gerd Schumann über den unaufhaltsamen Aufstieg eines Postrevolutionärs: Joseph »Joschka« Fischer

  • Diether Dehm
  • Lesedauer: 5 Min.

Alle bisherige Geschichte sei eine Geschichte von Klassenkämpfen, schrieb Karl Marx. Und vergaß hinzuzufügen: Was die Arbeitsklassen unten lähmte, brachte meist Auftrieb für die Silberfischchen. Weil sich das Proletariat als Antagonist der Kapitalverhältnisse kaum mehr sichtbar zu Wort meldet, steigen jetzt soviel irrlichternde Blender aus einem sogenannten »linken Lager« hoch. Weil die mediale Verzückung über »klassenlose« Demonstrationen von Moralist*innen, von »Links- und Rechts-Identitären« alle Tarifstreiks und Ostermärsche in ein vom Lockdown begünstigtes Hintergrundrauschen drückt.

Die aktuell prominenteste Schaumgeburt heißt Annalena Baerbock, die es in der letzten Legislatur weder über ihr »grünes Herz« brachte, für die Aufnahme von Flüchtlingen aus dem griechischen Lager Moria, noch gegen die Machenschaften des BND und die Bundeswehr in Afghanistan zu stimmen. »Grün-Schwarz ante portas« bringt jetzt aber auch einen Princeton-Professor auf die große Bühne zurück: Joseph Fischer. Gemeinsam mit Alexander Graf Lambsdorff kündigte der grade im »Spiegel« an, wie den Russen so richtig wehgetan werden kann. Einst skandierte der deutsche Mob: »Jeder Schuss ein Russ!« Weil 1999 jedoch die Deutschen »einem instinktiven Pazifismus« - so Fischer - verfallen waren, musste die Parole der Erste-Weltkriegs-Generalität »Serbien muss sterbien!« auf Rot-Grün gestylt werden, um Jugoslawien militärisch zu zerschlagen.

Zu Fischers Roll & Comeback liefert nun Gerd Schumann Nahaufnahmen - zum Studium »linker« Konvertit*innen. Sein Buch kommt zur richtigen Zeit.

Wie Baerbock und Daniel Cohn-Bendit war auch »der eingefleischte Antikommunist« Fischer ein Aufsteiger von links, aus einer Truppe, die sich gar »Revolutionärer Kampf« nannte, aber gegen das Proletariat stand. Mit einem »Anti«-Faschismus, der von einer »Psycho-Anna-Lieschen Müller« stammen könnte - wider exakte Klassenanalyse. Demagogische Brillanz bewies der vormalige Straßenkämpfer, als er 1999 in seiner Eigenschaft als Außenminister der rot-grünen Regierungskoalition unter dem Sozialdemokraten Gerhard Schröder die Terrorisierung der Serben mittels 20 000 Tonnen Nato-Bomben und Uranmunition sanktionierte, die Serben in Luftschutzkeller jagen ließ, in denen sie schon unter Hitlers Luftwaffe gekauert hatten. Dazu tönte Fischer, dies geschehe, um »ein zweites Auschwitz« zu verhindern. Und um »die serbische SS« zu stoppen, wie sich Oskar Lafontaine an eine Aussage von Fischer erinnert. Nutznießer des Grünen-Politikers »Antifaschismus« wurde die profaschistische UCK, die sich als »Befreiungsarmee von Kosovo« gerierte.

Herrschende Medien hatte der Gewalttäter Fischer schon früher für sich eingenommen. Wie seine postmaoistischen, einstigen Mit-Straßenkämpfer benötigte er dazu wenig »revolutionäre Anstrengung«, sie vom »Feindbild DDR« - so Jürgen Reents, ehemaliger Mitbegründer der Grünen und Chefredakteur des »neuen deutschland« - zu überzeugen. Dies geschah so mühelos, wie sich deutsche Medienstars Ende der 90er Jahre für Fakenews über Slobodan Milošević als »Balkan-Hitler« gewinnen ließen. Aus rosa-grünen Vorkriegslügen wurden später die medialen Blaupausen für die »Menschenrechtskriege« des Westens in Afghanistan, Irak, Libyen und Mali. Schumann erwähnt in seinem Buch gelegentlich auch, wie die Sponti-Gang der Fischers und Cohn-Bendits gar von Geheimdiensten umworben wurde.

Ich kannte einen anderen Fischer, aus der Zeit, als ich mit Fred Gebhardt und Paul Leo Giani zu jenen Sozialdemokraten zählte, die zwischen dem Protagonisten dieses Buches und dem damaligen hessischen Ministerpräsidenten hin und her verhandelten, um für Rot-Grün altmodische Dachlatten aus dem Weg zu räumen. 1994 wurde Fischer dann mein Gegenkandidat im Frankfurter Bundestagswahlkreis 140. Und ich hatte Chancen für die SPD. Bis Fischer, obwohl auf der Grünen-Landesliste längst fest abgesichert, mit einer offensiven Erststimmen-Kampagne dafür sorgte, dass nicht der »KP-Spezi Dehm« (Fischer), sondern die rechtsextreme »Vertriebenen«-Funktionärin Erika Steinbach (damals CDU, jetzt bei einer AfD-Stiftung) den Wahlkreis bekam.

Schumanns Buch liefert minutiöse Details aus einer sensationellen Diagonalkarriere von links unten nach rechts oben. Aber Mosaiksteine erhalten nur im Gesamtbild ihre historische Platzierung. Dazu gehört die trojanische Sprachenteignung, die Aushöhlung aus proletarischer Tradition erwachsener Begriffe wie Emanzipation, Friedensbewegung, Dialektik, Antirassismus, Antirevisionismus, Europa des Friedens, Menschenrechte etc. Vom Subjekt der Geschichte, dem Proletariat, »abgehoben«, werden Worte in Patronenhülsen für wechselnde Fronten umgefüllt.

Nach dem Schröder/Fischer-Regime, dessen »Reform«-Agenda 2010 und dem ersten Angriffskrieg von deutschem Boden nach 1945, dem Nato-Krieg gegen Jugoslawien ohne UN-Mandat, waren die Werktätigen dieses Landes gut beraten, ihre Portemonnaies festzuhalten, wenn von Interventionen zwecks Schutz von »Menschenrechten« die Rede war. Weil dies Aufrüstung bedeutete. Oder auch von »Reformen« gefaselt wurde, die ihnen nur Hartz IV und Altersarmut einbrachten. Oder von »Solidarität«, weil mit diesem schönen Wort nur eine schlechte Abgabe propagiert wurde. Erkämpfte Begriffe des Antifaschismus, für die Millionen Menschen geblutet hatten, mussten nun dafür herhalten, neues Blutvergießen zu legitimieren. Antikommunismus - also die Feindseligkeit gegen Schutzorganisationen der Arbeitskraftverkäufer*innen - war wieder in Mode. Gewerkschaftsfeindlichkeit wurde zu einer Phobie, die manche Antifa aus dem Auge verloren. Ebenso die Russenphobie. Als ob es Goebbels »bolschewistische Weltverschwörung« als die imperialistischste Verschwörungstheorie nie gegeben hätte, mit der just im Juni vor 80 Jahren die Tötung von 27 Millionen Sowjetmenschen eingeläutet wurde.

Um in die herrschende Kaste aufzusteigen, muss sich ein Postrevolutionär zunächst von der marxistischen Kategorie der Arbeitskraft abheben, sich lösen aus der Bewegung um deren Ver- und Bewertung sowie materiell umkämpfte »Menschenwürde« zur immateriell hohlen Phrase degradieren. Darauf zielt denn auch die Titelfrage des Buches von Gerd Schumann.

Gerd Schumann: »Wollt ihr mich oder eure Träume?« Joschka Fischer - ein Nachruf. Verlag Das Neue Berlin, 189 S., br., 15 €.

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