Hier arbeiten Menschen

Welche Reformen sind im Sinne von Beschäftigten in der EU? Forschende haben zum Sozialgipfel eine Studie vorgelegt

  • Eva Roth
  • Lesedauer: 6 Min.

Am Bau und in Pflegeheimen, in Fabriken, Büros und Homeoffices: In der Europäischen Union arbeiten Millionen Beschäftigte für wenig Geld und schlecht abgesichert. Die vor vier Jahren verkündete »Europäische Säule sozialer Rechte«, in der Grundsätze für ein soziales und gerechtes Europa formuliert sind, hat die Lage nicht wesentlich verbessert. Forschende der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung (HBS) haben nun zum EU-Sozialgipfel, der am Freitag in Porto stattfand, eine Studie vorgelegt. Darin erläutern sie, welche Reformen jetzt aus ihrer Sicht besonders wichtig sind.

Neben Forderungen zur Wirtschaftspolitik und Mitbestimmung plädieren sie dafür, die sozialen Rechte von Beschäftigten zu stärken. Was schlagen sie vor?

Allein vor dem Bildschirm: Zuerst widmen sich die Forschenden nicht abhängig Beschäftigten, sondern Selbstständigen. »Das ist ein großer Bereich mit großen Problemen«, sagt Daniel Seikel, der die Studie mitverfasst hat. Insbesondere die Plattformökonomie habe das Potenzial, das ganze Arbeitsrecht aus den Angeln zu heben.

Hier sind Erwerbstätige nicht mehr bei einem Unternehmen angestellt, sondern erhalten ihre Aufträge als tatsächliche oder vermeintliche Selbstständige über Internet-Plattformen. Es sind Software-Entwicklerinnen, Grafiker und andere Crowdworker. Die Digitalisierung begünstigt solche Jobs: Menschen verdienen ein bisschen Geld, indem sie zu Hause am Rechner Produkte für Online-Shops beschreiben. Andere versehen Straßenbilder mit Hinweisen, damit die Software in selbstfahrenden Autos erkennt, dass ein Zebrastreifen ein Zebrastreifen ist. Diese Menschen haben oft schwankende und geringe Einkommen und sind schlecht abgesichert, bei Krankheit verdienen sie nichts.

Rund 15 Prozent aller Erwerbstätigen in der EU sind selbstständig, früher waren viele in der Landwirtschaft tätig, heute arbeiten mehr im Dienstleistungssektor, so die Böckler-Studie mit dem Titel zukunftsozialeseuropa. Ein wachsender Anteil sei solo-selbstständig.

Diese Menschen sollten generell in die gesetzlichen sozialen Sicherungssysteme einbezogen werden, die EU sollte dabei Mindeststandards definieren, fordern die Autorinnen und Autoren. Zwar steht in der »Europäischen Säule sozialer Rechte«, die die EU auf dem Sozialgipfel in Göteborg 2017 verkündet hat, dass auch Selbstständige das Recht auf angemessenen Sozialschutz haben. Doch die Erklärung ist nicht bindend.

Erwerbstätige wie Crowdworker sollten sich zudem zusammenschließen, streiken und Tarifverträge aushandeln dürfen, fordert die Böckler-Studie. Nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs dürfen zwar »Schein-Selbstständige« in Tarifverträge einbezogen werden. Doch bei anderen Selbstständigen ist die juristische Lage unklar, erklärt Daniel Hlava, Fachmann für Europäisches Arbeitsrecht am Hugo-Sinzheimer-Institut der HBS. »Es besteht die Gefahr, dass Tarifverträge von Selbstständigen wegen des Kartellrechts als illegale Preisabsprache gewertet werden.«

Mindestlöhne: Im Herbst 2020 hat die EU-Kommission einen Entwurf für eine Mindestlohn-Richtlinie vorgelegt, der auch eine Stärkung von Tarifverträgen vorsieht. »Der Vorschlag steht für einen Paradigmenwechsel in der europäischen Arbeitspolitik«, urteilen die Böckler-Fachleute. Denn die Kommission setzte früher vor allem auf den freien Markt und drängte in der Wirtschaftskrise 2008/2009 Länder dazu, Löhne zu senken. Nun plädiert sie für »angemessene« Mindestlöhne. Was das konkret heißt, darf die EU den Staaten nicht vorgeben. In den Erwägungsgründen des Gesetzes sind aber Richtwerte genannt: Angemessen sind demnach Untergrenzen, die bei etwa 60 Prozent des Bruttomedianlohns und 50 Prozent des Bruttodurchschnittslohns liegen. In Deutschland wären dies etwa zwölf Euro pro Stunde, derzeit beträgt der Mindestsatz 9,50 Euro. Die EU habe mit dem Entwurf ihren rechtlichen Spielraum ausgereizt, sagt HBS-Tarifexperte Thorsten Schulten. Der Vorschlag unterstütze damit die Befürworter von höheren Mindestlöhnen, durchsetzen müsse man dies auf nationaler Ebene.

Auch prominente Ökonominnen und Ökonomen wie Thomas Piketty und Mariana Mazzucato haben am Freitag in einem Schreiben das EU-Vorhaben gefeiert: »Erstmals in der Geschichte der EU liegt ein Gesetzentwurf auf dem Tisch, der ausdrücklich darauf abzielt, nicht nur die Mindestlöhne in Europa deutlich zu erhöhen, sondern auch nationale Tarifvertragssysteme zu stärken«, heißt es darin. Beide Vorhaben sollten als Schlüsselelemente einer Erholungsstrategie nach der Pandemie gefördert werden.

Eine Umsetzung des EU-Vorschlags würde für über 25 Millionen Beschäftigte in der EU zu einer Lohnerhöhung führen, hierzulande hätten fast sieben Millionen Personen Anspruch auf mehr Geld, so die Böckler-Studie.

Unternehmensverbände lehnen die EU-Initiative hingegen ab. Auch einige Regierungen sind skeptisch - einzelne Gewerkschaften, insbesondere in Dänemark und Schweden, sind ebenfalls dagegen. Dort sind Tarifbindung und Entgeltniveau relativ hoch, einen gesetzlichen Mindestlohn gibt es nicht. Mit der EU-Regelung könnten die Gehälter unter Druck geraten, so eine Befürchtung aus diesen Ländern. Schulten hält dem entgegen: Er kenne keinen Fall, bei dem durch die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns die Gehälter gesunken sind.

Der Tarifexperte hofft auf die französische EU-Ratspräsidentschaft im kommenden Jahr. Dann sind in Frankreich Wahlen. Präsident Emmanuel Macron könnte das Projekt vorantreiben, um deutlich zu machen, dass sein EU-freundlicher Kurs richtig ist.

Wanderarbeiter: Aus dem Ausland entsandte Beschäftigte sind rechtlich besser geschützt als früher. Im Prinzip muss für sie laut EU-Entsenderichtlinie nun gelten: gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort. Doch tatsächlich sind ihre Arbeitsbedingungen oft schlecht, weil die europäischen und nationalen Regelungen lückenhaft und die Kontrollen ungenügend sind, kritisiert die Studie. So habe Deutschland die Richtlinie unzureichend umgesetzt. So gelten allgemeinverbindliche Tarifverträge auf regionaler Ebene für entsandte Beschäftigte nicht.

Auch für Saisonarbeitskräfte fehlen verbindliche Vorgaben für die Unterbringung. Die EU-Regeln ermöglichen auch Niedrigstlöhne, etwa, weil Saisonarbeiter als Solo-Selbstständige angeheuert werden dürfen. Die Ansprüche von Pflegerinnen in Privathaushalten sind nicht geklärt.

Benötigt würden klare Regeln, die eine Gleichstellung von Beschäftigten aus anderen EU-Ländern mit Inländern sicherstellen, so der Europapolitik-Fachmann Seikel. Doch nutzten die besten Regeln nichts, wenn ihre Einhaltung nicht überprüft werde. Daher müssten Kontrollkapazitäten erhöht und Kontrollpflichten definiert werden.

Streik als Freiheitsberaubung: Abhängig Beschäftigte in der EU haben das Recht zu streiken und Tarifverträge auszuhandeln. Gleichzeitig gewährt die EU Unternehmen wirtschaftliche Freiheiten.Doch beide Rechte beißen sich, im Zweifel entscheiden Gerichte, wer wie eingeschränkt werden darf. Bei der Entwicklung der EU standen die sogenannten Grundfreiheiten (freier Waren-, Dienstleistungs-, Personen- und Kapitalverkehr) klar im Vordergrund, erläutert der Arbeitsrechtler Hlava.

Dies führte etwa dazu, dass der Gerichtshof 2007 einen Streik von schwedischen Gewerkschaftern für unzulässig erklärt hat. Die Gewerkschaft hatte gefordert, dass Beschäftigte eines lettischen Unternehmens, die auf einer Baustelle in Schweden arbeiteten, nach schwedischen Tariflöhnen bezahlt werden. Dies, so das Gericht, habe die Dienstleistungsfreiheit des Unternehmens unbotmäßig eingeschränkt.

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Ein Weg, um Arbeitnehmerrechte zu stärken, wäre ein »soziales Fortschrittsprotokoll« im europäischen Vertragsrecht, so die Forschenden. Dessen Zweck sei es, sozialen Rechten wie Tarifverhandlungen und Streiks einen generellen Vorrang zu geben vor »wirtschaftlichen Freiheiten«, die meist Freiheiten von Unternehmen sind.

Ein anderer Weg wäre, sogenannte Bereichsausnahmen zu regeln, damit jene kollektiven Rechte nicht von den »Grundfreiheiten« tangiert werden können.

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