Polarisierung bei den Einkommen wächst weiter

Soziologe Jürgen Schupp über die sechs Armuts- und Reichtumsberichte der Bundesregierung und ihre Auswirkungen

Schon beim Weltsozialgipfel 1995 in Kopenhagen hatte sich die Bundesrepublik zur Erstellung eines Armutsberichtes verpflichtet. Erst 2001 wurde dann der erste Armuts- und Reichtumsbericht veröffentlicht. Wie kam es dazu?
Die damals neue rot-grüne Koalition beschloss im Bundestag, dass die Regierung zur Mitte jeder Legislaturperiode künftig einen Armuts- und Reichtumsbericht zur Frage der Einkommen und Vermögen vorlegen soll. Die Regierung Kohl hatte Armut sozusagen geleugnet und von »bekämpfter Armut« oder von »Niedrigeinkommen« gesprochen. Auslöser für den ersten Bericht war der politische Wechsel.

Spätestens nach dem ersten Armuts- und Reichtumsbericht konnte keiner mehr leugnen, dass es in Deutschland arme Menschen gibt. Hat der Bericht etwas in der Politik bewirkt?
Es war dann klar, dass Armut auch in Deutschland anzutreffen ist. Der Anteil der Menschen, die weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens der Gesellschaft zur Verfügung haben, gelten demnach als armutsgefährdet. Viele europäische Nachbarstaaten hatten schon vorher den Anteil der armen Menschen erhoben. Mit dem ersten Armuts- und Reichtumsbericht hat die Bundesrepublik sozusagen nachgezogen. Dass es hierzulande Armut gibt, hat so auch die Regierung anerkannt und der Bericht wird seitdem lebhaft im Parlament diskutiert. Das war ein Novum. Seitdem gibt es eine größere Gelassenheit mit Blick auf den nach wie vor aufgeladenen Begriff der Ungleichverteilung.

Jürgen Schupp

ist Professor für Soziologie an der Freien Universität Berlin und Wissenschaftler beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Von 2011 bis 2017 leitete Schupp dort das Sozio-oekonomische Panel (SOEP), eine wesentliche Datengrundlage aller Armuts- und Reichtumsberichte. Lisa Ecke sprach mit ihm über die Entstehung und Entwicklung der Berichte und über ihre politischen Auswirkungen.

Nicht mal ein Jahr später wurde die Hartz-Kommission gegründet, 2005 dann Hartz IV eingeführt. Erwerbslose Menschen wurden für ihre Armut noch bestraft, hat der erste Armutsbericht für sie also gar nichts gebracht?
Das kann man so pauschal nicht sagen. Die Intention war schon, für Bedürftige, die lange arbeitslos waren, die Möglichkeit der Zuverdienste neu zu schaffen. Wer früher Sozialhilfe erhielt, dem wurde sie bei Aufnahme einer Erwerbstätigkeit entzogen. Der Rückgang der Arbeitslosigkeit, der dann einsetzte, zeigt durchaus, auf welchem vergleichsweise hohem Niveau die Sozialleistungen gehalten werden konnten.

Es geht aber doch nicht nur darum, dass möglichst wenig Menschen erwerbslos sind. Es wurde ein riesiger Niedriglohnsektor erschaffen. Ist die Armut seit dem ersten Bericht sogar angestiegen?
Der vorläufige Höhepunkt der Armut war genau zu der Zeit, als die Hartz-Gesetze eingesetzt haben. Diesen hohen Sockel abzubauen, hat man nicht geschafft. Das politische Ziel, die hohe Armut von 15, 16 Prozent wieder zurückzudrängen auf ein Niveau von elf oder zwölf Prozent, ist bislang nicht gelungen.

Hat sich die Ungleichheit noch verstärkt?
Von dem Wachstum unserer Volkswirtschaft und unserer Einkommen insgesamt haben eher die oberen Einkommensschichten profitiert und weniger die unteren. Die Polarisierung, insbesondere durch das Wachstum in den oberen Einkommensgruppen, hat in den letzten Jahren zugenommen. Dazu kommt, dass noch in den 1980er Jahren etwa 40 Prozent der armen Menschen dies auch vier Jahre später noch waren. Dieser Anteil ist mittlerweile auf 70 Prozent angestiegen. Die Verkrustungen, die dazu führen, dass man in Armut verbleibt, haben zugenommen.

Was hat sich für besonders armutsgefährdete Menschen seit Veröffentlichung des ersten Berichts verändert?
Die Gruppe der Alleinerziehenden und Erwerbslosen tragen das höchste Armutsrisiko. Das wurde bereits im ersten und zweiten Bericht festgestellt, und es hält sich jetzt bis zu dem neuesten Bericht. Wobei man einräumen muss, dass seit dem ersten Bericht auch etwas geschehen ist, beispielsweise im Ausbau der Kinderbetreuung zur Unterstützung von Alleinerziehenden. Aber da ist nach wie vor Luft nach oben.

In den Berichten geht es nicht nur um Armut, sondern auch um Reichtum. Hat es da zwischen dem ersten und sechsten Bericht eine Veränderung gegeben?
Schon im ersten Bericht war das Thema Reichtum ein Stück weit unterbelichtet, das hat man zu verbessern versucht. Im jüngsten Bericht hat das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung eine neue Datenbasis gerade für die Hocheinkommensbeziehenden vorgelegt. Da konnte im Bereich der Vermögen eine größere Ungleichheit identifiziert werden als sie im letzten Bericht noch angenommen wurde. Nichtsdestotrotz ist die Datenlage im Bereich der hohen und höchsten Einkommen nach wie vor sehr schlecht. Es fehlt eine Zählung aus einem Bestandsregister, wie dies in Zeiten der Erhebung der Vermögenssteuer noch möglich war. In anderen Ländern gibt es mehr Daten von hohen Einkommen und Vermögen, in Deutschland ist die Berichtspflicht beschränkt.

Also sollte es auch deshalb wieder eine Vermögenssteuer geben?
Eine Vermögenssteuer nur für eine bessere Datenlage wäre ein Überspannen. Aber ein Nebeneffekt der Einführung wäre natürlich, dass es eine regelmäßige Vermessung der Vermögen gäbe. Dann wäre es auch möglich, die Sozioökonomie dieser höheren Einkünfte und Vermögen im Vergleich zu der großen Gruppe in der Bevölkerung zu kontrastieren, die über keinerlei Vermögen verfügt. Welcher Anteil des Vermögens wurde geerbt, welcher im Lebensverlauf selbst erworben? Oder die Klärung der Frage, wie stark sich Reichtum auf soziales und politisches Engagement auswirkt.

Was wären denn außer einer Vermögenssteuer noch für Maßnahmen sinnvoll, um die wachsende Ungleichheit zu stoppen?
Eine Vermögensbesteuerung ist sicherlich ein Punkt. Auch bei den Grundsicherungsleistungen ist nach wie vor Handlungsbedarf. Also was die bedarfsgeprüften Sozialleistungen wie Hartz IV angeht, fallen etwa bestimmte Leistungen weg, wenn nur wenige Euro mehr verdient werden. Das zu komplexe System der Grundsicherung muss reformiert werden. Auch die Höhe der Grundsicherungsleistungen ist strittig, wird als zu niedrig kritisiert. Das sind Baustellen, mit denen sich die künftige Bundesregierung sicherlich auseinandersetzen wird.

Was sollte getan werden, um die Gruppe der Alleinerziehenden und allgemein der Kinder vor ihrem hohem Armutsrisiko zu schützen?
Im vierten und fünften Armutsbericht war die Kinderarmut noch überproportional hoch, das ist im aktuellen Bericht nicht mehr der Fall. Die Altersgruppe mit dem höchsten Armutsrisiko sind eher die jungen Erwachsenen. Da muss der politische Fokus hingewendet werden. Diejenigen ohne ordentlichen Schulabschluss oder ohne beruflichen Abschluss müssen vor dem Schicksal der Langzeitarbeitslosigkeit bewahrt werden. Was die Kinder betrifft, ist das Konzept der Kindergrundsicherung in der Debatte. Wäre der Gang zum Jobcenter da notwendig? Oder gibt es auch andere Formen, den Kindern unabhängig von Hartz IV die ihnen zustehenden Leistungen zu gewähren. Ich denke, da gibt es noch Handlungsbedarf.

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