Wie aus Nachbarn Feinde wurden

Juden und Muslime haben einst friedlich in französischen Stadtvierteln nebeneinander gelebt. Nun nehmen die Konflikte zwischen ihnen zu

  • Ralf Klingsieck, Paris
  • Lesedauer: 3 Min.

Um ihre Solidarität mit den Palästinensern zu bekunden, die bei der gegenwärtigen Eskalation des Nahostkonflikts die meisten Opfer zu beklagen haben, sind am Sonnabend in Frankreich 22 000 Menschen auf die Straße gegangen. Mehr als 2500 waren es allein in Paris. Während die Demonstrationen oder Meetings in Lyon, Marseille, Bordeaux, Toulouse, Montpellier, Lille, Metz, Rennes und Nantes genehmigt waren und friedlich verliefen, war die Demonstration in Paris wegen »akuter Gefahr für die öffentliche Sicherheit« verboten worden. »Wir wollen keine Demonstrationen des Hasses und der antisemitischen Hetze«, erklärte Innenminister Gérard Darmanin.

Die Palästinenser-Vereinigung, die vor den jüngsten Ereignissen in Israel zur Demonstration aufgerufen hatte, um an den Jahrestag der Vertreibung von Palästinensern 1948 bei der Gründung des Staates Israel zu erinnern, hielt trotz des polizeilichen Verbots an ihrem Aufruf fest. Ihm folgten anfangs nur wenige hundert Menschen mit palästinensischen Fahnen und einigen wenigen Transparenten mit Losungen gegen die Politik Israels. Doch im Verlauf des Nachmittags wurden es immer mehr. Es kamen vor allem Jugendliche aus den Vororten, die offensichtlich die Konfrontation mit der Polizei suchten. Ihnen standen 4200 Polizisten und Gendarmen gegenüber, die Tränengas und Wasserwerfer einsetzten, um die Menge zu zerstreuen und keinen Demonstrationszug zustande kommen zu lassen.

40 Demonstranten wurden vorübergehend festgenommen und ein Gendarm durch einen Steinwurf schwer am Kopf verletzt. Die Ordnungskräfte verhinderten, dass der Demonstrationszug wie geplant bis ins Zentrum von Paris gelangt. Dabei wäre er am Marais-Viertel vorbeigekommen, wo viele jüdische Familien leben und es zahlreiche jüdische Geschäfte gibt. Es sollte vermieden werden, dass sich Ausschreitungen wie im Juli 2014 wiederholen. Seinerzeit hatte es bei einer vergleichbaren Demonstration Sprechchöre mit Losungen wie »Tod den Juden« und »Zerschlagt Israel« gegeben. Es wurden jüdische Geschäfte verwüstet und geplündert sowie Autos angezündet. Dass eine Wiederholung derartiger Vorfälle verhindert werden sollte, fand Zustimmung bei den Politikern der meisten Parteien und in der Öffentlichkeit. Zugleich gab es aber auch Kritik am »vorbeugenden« Verbot der Demonstration. So erinnerten die Bewegung La France insoumise und die Organisation Attac daran, dass Demonstrieren zu den verfassungsmäßigen Grundrechten gehört. Der Innenminister messe »mit zweierlei Maß«, denn Demonstrationen der Gewerkschaften oder der Gelben Westen würden nicht vorbeugend verboten, weil es am Rande zu Ausschreitungen und Gewaltakten kommen könnte.

In Frankreich besteht europaweit die größte Gefahr, dass der Nahostkonflikt hierher übergreift. Mit vier Millionen Muslimen und 400 000 Juden hat das Land den größten Bevölkerungsanteil dieser beiden Glaubensgemeinschaften. Juden wie Muslime stammen fast durchweg aus den ehemaligen Kolonien in Nordafrika und haben nach ihrer Übersiedlung nach Frankreich zumeist in denselben Stadtvierteln friedlich miteinander gelebt. Diese Harmonie ist in den vergangenen Jahren zunehmend zerstört worden, weil unter den Muslimen der radikale Islamismus um sich gegriffen hat und auch unter Juden extremistische Kräfte erstarkt sind. Wegen des wachsenden Antisemitismus wandern immer mehr französische Juden nach Israel aus. Frankreich versucht in seiner Innen- und Außenpolitik, die Muslime besser zu integrieren und für die Werte der Republik zu gewinnen und die Juden zu schützen. Zu Israel soll ein konstruktives und freundschaftliches Verhältnis bewahrt werden, wobei aber auch die Politik gegenüber den Palästinensern kritisiert und auf eine Zwei-Staaten-Lösung hingearbeitet wird.

In diesem Sinne telefonierte Präsident Emmanuel Macron am Wochenende nacheinander mit Mahmud Abbas, dem Präsidenten der Palästinensischen Autorität, und mit dem israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu. Er forderte beide Seiten auf, die Gewalt umgehend zu beenden.

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