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  • Wohnungslosigkeit bei Behinderten

Ausgegrenzt in Hamburg

René L. ist blind und sucht eine Wohnung. Das ist ein fast aussichtsloses Unterfangen

  • Volker Stahl
  • Lesedauer: 6 Min.

»Ja, das möchste: Eine Villa im Grünen mit großer Terrasse, vorn die Ostsee, hinten die Friedrichstraße; mit schöner Aussicht, ländlich-mondän, vom Badezimmer ist die Zugspitze zu sehn - aber abends zum Kino hast dus nicht weit«, scherzte der Schriftsteller Kurt Tucholsky vor knapp einem Jahrhundert über die Wohnträume der Berliner Großstadtbewohner im Gedicht »Das Ideal«.

Der Hamburger René L. ist weitaus bescheidener. Er wäre schon mit einer Wohnung zufrieden, die seinen Bedürfnissen halbwegs gerecht wird. Der 38-Jährige ist von Geburt an blind und muss täglich viele Hindernisse überwinden: »Meine aktuelle Wohnung verfügt über keinen eigenen Waschmaschinenanschluss, und die Räume haben alle einen hohen Absatz. Um die nächste Bushaltestelle zu erreichen, muss ich die vierspurige Bramfelder Chaussee überqueren.« Das ist extrem gefährlich, weil er die Ampelsignale bei starkem Verkehr nicht immer hören kann. Auch die in der Nähe kaum vorhandenen Einkaufsmöglichkeiten machen seinen Alltag beschwerlich. Selbst kleine Probleme stellen René L. vor große Herausforderungen. So kommt er zum Beispiel mit den von anderen Benutzern immer wieder anders eingestellten Waschmaschinenprogrammen in der Gemeinschaftswaschküche nicht zurecht.

Ein Assistenzhund wird zum Handicap

Der Hamburger Sozialverbandschef Klaus Wicher wird mit den Sorgen und Problemen, die René L. plagen, häufig konfrontiert: »Wo es Mangel gibt, da herrscht große Konkurrenz, die vor allem die Schwachen, nämlich arme Menschen, aber auch diejenigen mit Behinderung, hinten anstellt. Eine passende Wohnung zu finden, ist ja an sich schon eine Herausforderung. Auch noch eine zu finden, die barrierefrei oder rollstuhlgerecht ist - das grenzt fast schon an den berühmten Lottogewinn.«

René L. lernte als Mensch mit Handicap die Schattenseiten der Leistungsgesellschaft gleich mehrfach kennen. Trotz einer in Hannover erfolgreich absolvierten kaufmännischen Ausbildung hatte er außer einigen kurzzeitigen Beschäftigungsverhältnissen keine Chance auf dem Arbeitsmarkt. Zudem wurde bei ihm 2017 eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert. Mittlerweile ist er frühverrentet. 2019 zog er zurück in seine Heimatstadt und bezog eine 40 Quadratmeter große Zwei-Zimmer-Wohnung in der Stiftung Hans und Gretchen Tiedje im Hamburger Stadtteil Bramfeld. Doch jetzt hat er sich entschieden, wieder auf Wohnungssuche zu gehen.

Seine Erfahrungen zeigen aber, dass die Bemühungen um eine behindertengerechte Wohnung nahezu aussichtslos sind: »Bei gefühlt Tausend Bewerbungen werde ich fünfmal zu Besichtigungen eingeladen«, klagt der eloquente Enddreißiger. Und die wenigen Ortstermine laufen meist so ab: Die Makler drucksen herum und spätestens dann, wenn L. erwähnt, dass er sich um die Bewilligung eines Assistenzhunds bemüht, sinken seine Chancen auf null, die Wohnung zu bekommen. »Viele reagieren empfindlich auf das Tier, oft wohl aus Ahnungslosigkeit, denn Assistenzhunde unterliegen einer Sonderregelung«, erklärt René L. Das bedeutet: Ein im Mietvertrag ausgesprochenes Tierhaltungsverbot greift in seinem Fall nicht. Aber viele Vermieter wollen keine Tiere und entscheiden sich für einen anderen Interessenten.

28.000 Wohnungslose in Hamburg

Immerhin hat René L. aktuell eine Bleibe - andere haben die nicht. Derzeit leben in Hamburg rund 28.000 Menschen ohne eine eigene Wohnung, knapp 23.000 von ihnen sind Geflüchtete, die meistens in Heimen verharren. Viele von ihnen drängen mittlerweile auf den Wohnungsmarkt. Das liegt auch daran, dass einige Unterkünfte für Geflüchtete in absehbarer Zeit schließen werden. Denn zwischen dem Senat und Bürgerinitiativen, die den Unterkünften in ihrer Nachbarschaft skeptisch gegenüberstanden, wurden sogenannte Bürgerverträge ausgehandelt, die eine Schließung der Heime zu einem bestimmten Zeitpunkt festgelegt haben. »Dadurch steigt der Druck auf den Hamburger Wohnungsmarkt noch stärker«, sagt Oliver Hoof, der als Sozialberater beim städtischen Sozialträger fördern&wohnen arbeitet. Seit Mai 2019 unterstützt der studierte Ethnologe die Zugewanderten, eine eigene Wohnung zu finden.

Das ist jedoch nicht leicht. »Familien ab vier Personen haben allergrößte Schwierigkeiten, etwas zu finden«, sagt Hoof, »in Hamburg gibt es für diese Klientel nicht genügend große Wohnungen.« Einige Familien, vor allem diejenigen, die acht bis zehn Personen umfassen, blieben deshalb lange in den Flüchtlingsunterkünften. »Doch es fehlen auch Single-Wohnungen und generell erschwinglicher Wohnraum«, betont der 38-Jährige. Das liegt auch daran, dass vor allem das kommunale Wohnungsunternehmen Saga Räume für Geflüchtete bereithält. Zuletzt sind einige Geflüchtete bei den Genossenschaften Altoba und Hansa untergekommen. Aber die Angebote sind begrenzt. Selten werden Wohnungen angeboten, die vier oder mehr Zimmer haben.

Hoof und sein Team begleiten die Neuangekommenen auch bei Besichtigungsterminen: »Wir sind mobil und helfen den Leuten beispielsweise bei Mietvertragsunterzeichnungen.« Falls es dazu überhaupt kommt. »Viele Vermieter hegen eine Abneigung besonders gegenüber Menschen aus Subsahara-Afrika«, sagt Hoof und nennt das Beispiel einer alleinerziehenden Mutter mit mehreren Kindern, deren Wohnungssuche so gut wie aussichtslos ist. Bisweilen äußerten Mitarbeiter von Verwaltern oder private Anbieter unverhohlen rassistische Motive, erzählt Hoof. Eine Studie der Antidiskriminierungsstelle des Bundes belegt Hoofs Schilderungen: Demnach zeigten 41 Prozent der Befragten Bedenken, eine eigene Wohnung an Menschen mit Migrationshintergrund zu vermieten. Das Recht ist in diesem Fall weiter als das, was an Vorurteilen in den Köpfen dieser Menschen herumschwirrt, denn Diskriminierung bei der Wohnungsvermietung ist justiziabel. »Viele Betroffene wehren sich nicht dagegen, weil sie nicht wissen, wie sie das tun sollen und dass das überhaupt möglich ist«, erzählt Hoof. »Außerdem gibt es meist für solche Aussagen keine Zeugen.«

Im Gerangel um frei werdende und neu gebaute Wohnungen bleiben auch immer häufiger Geringverdienende auf der Strecke. Ungelernte Beschäftigte geben in Hamburg laut einer Studie des Internetportals Immonet 45 Prozent ihres Familieneinkommens für die Miete aus. In Hamburg war die Entwicklung auf dem Mietmarkt in den vergangenen Jahren besonders dramatisch: Während die Single-Mieten in den Metropolen Bremen, Hannover und Kiel um 28, 27 und 25 Prozent zulegten, gingen sie an Alster und Elbe geradezu durch die Decke. Das liegt auch an der starken Nachfrage und am begrenzten Angebot. Siegmund Chychla, Vorsitzender des Mietervereins zu Hamburg, schätzt, dass in der Hansestadt mindestens 30.000 Wohnungen für Geringverdienende fehlen.

Auch der Paritätische Verband Hamburg sieht einen höheren Bedarf an geeignetem und bezahlbarem Wohnraum. Zwar gibt es derzeit einen Bauboom, aber gerade der Bau von Sozialwohnungen bleibt hinter den Erwartungen zurück. Der Mangel ist mittlerweile alarmierend. Mehr als 11 000 Haushalte in der Hansestadt konnten 2018 nicht mit Wohnungen versorgt werden, obwohl sie über einen Dringlichkeitsschein verfügten. Und seitdem hat sich die Situation keineswegs gebessert.

Oder doch ins Umland?

Immerhin kann sich René L. eine Wohnung von seinen eigenen Einkünften leisten: Erwerbsminderungsrente plus Grundsicherung und das Blindengeld gehen monatlich auf sein Konto ein. »Eigentlich sind das sichere Einnahmen für den Vermieter, doch die sehen nur meinen Status und nehmen mich als Aufstocker und Schwerbehinderten wahr.« Auch sein makelloser Schufa-Eintrag helfe nicht, bedauert er: »Es werden immer nur die Besten der Besten ausgesucht.« Besonders problematisch seien private Wohnungsanbieter, die oft Vorbehalte gegen eine Behinderung hätten.

Auch eine andere Sache ärgert ihn: Wenn er denn einmal zu einer Besichtigung eingeladen wird, dann werde immer seine sehende Begleitperson angesprochen, aber nicht er, der die Wohnung anmieten möchte. »Ich bin blind, aber nicht blöd!« Frustriert überlegt er inzwischen manchmal, ob es nicht besser sei, im Umland nach einer neuen Bleibe zu suchen. Dort wird er vermutlich mehr Chancen haben. Aber eigentlich möchte er dort nicht hinziehen, denn in der Stadt wohnen schließlich seine Freunde und seine Bekannten.

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