Auf dem Weg ins duale System?

Berufliche Ausbildung steht in Schweden wie in Deutschland unter starkem Reformdruck

  • Jochen Reinert
  • Lesedauer: 4 Min.
Obwohl Schweden und Deutschland bei der Berufsbildung völlig andere Wege gehen, produzieren beide Systeme allzu viele junge Arbeitslose. Fachleute beider Länder suchen derzeit nach Auswegen.
Letzte Chance: Die Helmut-Ziegner-Stiftung bildet in Berlin Jugendliche ohne Ausbildungsplatz aus.
Letzte Chance: Die Helmut-Ziegner-Stiftung bildet in Berlin Jugendliche ohne Ausbildungsplatz aus.

Der Ausbildungsexperte Rainer Schwenke vom Greifswalder Schwedenkontor beobachtet seit geraumer Zeit, dass im nördlichen Nachbarland viele kleine und mittlere Unternehmer händeringend nach Heizungsinstallateuren oder Zimmerleuten suchen. Der Grund: In Schweden werden in etlichen Bereichen zu wenig Facharbeiter ausgebildet – ein Umstand, den Schwenke mit seinem Kontor »ausnutzt«: Sein Team bereitet ostdeutsche Arbeitslose auf einen beruflichen Einstieg in Skandinavien vor – und dies mit Erfolg.

Die Erklärung liefert der schwedische Bildungsexperte Jonas Olofsson von der Universität Lund. Immer weniger Schüler wählen in der zweiten Sekundarstufe der schwedischen Gemeinschaftsschule (ab 9. Klasse) den praktischen Zweig, die übliche Form der Berufsausbildung, erklärte Olofsson jüngst auf einer Tagung der Berliner Friedrich-Ebert-Stiftung. Früher waren das 70 Prozent aller Oberstufenschüler, heute sind es nur 35 Prozent – was zu einem spürbaren Mangel an qualifizierten Arbeitskräften führt.

Jonas Olofsson holt aus: Anfang der 1980er Jahre gingen nur 20 Prozent der schwedischen Schüler von einer mittleren zu einer gymnasialen Ausbildung mit Hochschulreife über, heute sind das fast alle. Allerdings erreichen 25 Prozent dieser Sekundarstufe das Ausbildungsziel nicht und bei ihnen ist die Arbeitslosigkeit doppelt so hoch wie bei solchen mit Abschlüssen. Anfang der 1990er Jahre lag die Erwerbslosigkeit der 20- bis 24-Jährigen noch bei drei Prozent, doch als dann die große Krise kam, stieg sie auf über 15 Prozent – wo sie heute im Wesentlichen noch immer verharrt.

Wer in Schweden keinen Abschluss vorweisen kann, hat ein Problem, stimmt ihm Bertil Östberg zu. Der Staatssekretär im Stockholmer Bildungsministerium meint: Ja, die Jugendarbeitslosigkeit in Schweden sei im Vergleich zu anderen OECD-Ländern hoch, aber unter den 25- bis 34-Jährigen nehme sie rapide ab, jetzt sei die generelle Arbeitslosigkeit in seinem Land dank der Maßnahmen der neuen Mitte-Rechts-Regierung auf 3,7 Prozent gesunken. Dr. Olofsson, bis 2006 Berater im damals sozialdemokratisch geführten Arbeitsministerium, merkt indes an: Bisher konnten Jugendliche ohne Arbeit lange Fortbildungszeiten in Anspruch nehmen, was jedoch unter der neuen Regierung nicht mehr möglich sei.

Staatssekretär Östberg hält dem entgegen, seine Regierung habe ein Reformpaket zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit beschlossen und wolle mit einer Reform der Berufsbildung die Chancen der Schulabgänger deutlich erhöhen. Die bisherige Ausbildung an den staatlichen Oberschulen sei mit Blick auf den abiturähnlichen Abschluss viel zu theoretisch. Deshalb soll der praktische Anteil generell ausgeweitet werden, außerdem würden Pilotprogramme erprobt, in denen nach dänischem und deutschen Vorbild mindestens die Hälfte der Ausbildung in den Firmen stattfinden soll.

Schweden auf dem Weg in das duale System? Deutsche Fachleute reagieren überrascht. Denn die Schwächen dieses Systems werden in Deutschland immer offenbarer. Christoph Matschie, Vorsitzender des Forums Bildung beim SPD-Parteivorstand, gibt zu bedenken, dass heute nicht einmal mehr die Hälfte der Schulabgänger eines Jahrgangs einen Ausbildungsplatz erhalten und deshalb 40 Prozent im sogenannten Übergangssystem und damit in der Warteschleife landen.

Die meisten dieser weitgehend Chancenlosen sind Hauptschulabgänger, inzwischen geraten aber auch ein Viertel aller Realschulabsolventen in diese »Sackgasse«, wie es Detlev Küller vom DGB-Bundesvorstand nennt. Für ihn ist es unhaltbar, dass die Anzahl der ausbildenden Unternehmen von 50 Prozent in 2002 auf derzeit 23 Prozent gesunken ist. Die Ergebnisse des von Rot-Grün eingefädelten Ausbildungspakts mit der Wirtschaft hält er für bescheiden. Die Wirtschaft beschwere sich über Fachkräftemangel, bilde zugleich aber viel weniger aus – eine schizophrene Situation.

Einen wesentlichen Mangel des dualen Systems sieht Martin Baethge von der Universität Göttingen in der Marktorientierung: In konjunkturell guten Zeiten werden mehr Lehrlinge ausgebildet, in schlechten Zeiten deutlich weniger. Als weitere Schwäche diagnostiziert er die Tatsache, dass bei der Vergabe von Ausbildungsplätzen »soziale Netzwerke« eine große Rolle spielen – wobei Abgänger mit Migrationshintergrund besonders schlechte Karten haben. Ihre Situation habe sich »dramatisch verschlechtert«. Inzwischen ist ihr Anteil im dualen System auf vier Prozent gesunken. Jonas Olofsson kann dagegen berichten, dass Einwandererkinder in Schweden zwar in den berufspraktischen Zweigen der Oberstufe unter-, aber in den theoretischen Zweigen und in Universitäten und Hochschulen überrepräsentiert sind.

Schnell einig sind sich die deutschen und schwedischen Experten, dass die Probleme schon in der Mittelstufe beginnen. »Wenn 10 Prozent der Schüler in wichtigen Fächern wie Mathematik, Schwedisch oder Englisch die Bildungsziele nicht erreichen, haben wir auch in der zweiten Stufe ein Problem«, meint Staatssekretär Östberg. Mehrere deutsche Experten diagnostizieren als Hauptübel die zu frühe soziale Auslese in dem dreigliedrigen Schulsystems. Martin Baethge plädiert für eine »Ganztagsgesamtschule mit mittlerem Abschluss und mehr berufsorientierten Elementen« – wie sie bisher allerdings ansatzweise nur in Schleswig-Holstein angestrebt wird. Angesichts der Herausforderungen der Zukunft – dem Wandel zur Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft und der verstärkten Internationalisierung der Arbeitsmärkte im Zuge der Globalisierung – wirbt der Göttinger Bildungsforscher für ein Berufsabitur, das gerade für kleine und mittlere Betriebe einen höher ausgebildeten Nachwuchs bringen würde. In Baden-Württemberg, so ist zu hören, können Auszubildende an Be- triebsakademien ein Abitur erwerben – aber der lähmende deutsche Bildungs-Föderalismus hat diese Idee bisher nicht über die Landesgrenze hinausgelassen.

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