Werbung

Geboren aus Frustration

Simon Reynolds hat sich in die Musik der Postpunk-Zeit verliebt

  • Michael Saager
  • Lesedauer: 4 Min.

Was für ein Ziegelstein! Wie viel Arbeit in diesem Buch stecken muss! 128 Interviews hat Simon Reynolds geführt und sich durch Hunderte von Platten gehört. Mindestens. Der 1963 in London geborene Musikjournalist lebt seit 1994 in New York und arbeitet unter anderem für die »New York Times«, »Wire« und »The Guardian«. Und er weiß, wie man über Musik schreibt: in griffigen Thesen, anspruchsvoll, sinnlich, packend und mit subtilem Humor, (musik-)historisch supergenau und niemals begriffsscheu.

In »Rip It Up And Start Again. Schmeiß alles hin und fang neu an« – souverän übersetzt von Conny Lösch – geht es um Postpunk, New Pop und New Rock. Vor allem aber um Postpunk, um jene musikalische Phase, die ab 1978 für sieben Jahre auf den halbtot vor sich hinröchelnden Punkrock folgte. Reynolds zitiert Johnny Rottens Worte vom letzten Auftritt der Sex Pistols: »Schon mal das Gefühl gehabt, verarscht worden zu sein?« Aus der szenischen und musikalischen Frustration des Punk schlugen Bands wie The Fall, Scritti Politti, Gang Of Four, The Pop Group, Wire, Talking Heads, Devo oder Joy Division ihr subkulturelles Kapital. Sie fingen tatsächlich neu an, gründeten eigene Labels, aber am wichtigsten: Sie »erfanden« neue Musik – waghalsig, schrill, düster, poppig, schlank, krachig, zänkisch, dilettantisch, streng, dubbig, funky, dekonstruktiv.

Reynolds spürt insbesondere in Großbritannien und Teilen der USA (New York, Cleveland und Akron in Ohio) den unzähligen Subszenen und stilistischen Verästelungen nach. Mit mikroskopisch genauem Blick löst er Postpunk auf in seine Differenzen und bringt gleichzeitig heterogene musikalische Ansätze auf sinnvoll vereinheitlichende Begriffe wie die »Art Attack« der Talking Heads, Wires und Domes oder das »Militant Entertainment« von Gang Of Four, der Mekons und Au Pairs.

Als Historiker mit einem untrüglichen Gespür für die richtige Dramaturgie bettet er alles in eine Vielzahl spannender, sich teils überlappender oder auseinander hervorgehender Erzählungen. So schreibt Reynolds mit subtiler Häme über die beinahe verzweifelten Bemühungen des ehemaligen Sex-Pistols-Managers Malcolm McLaren, neue Duftmarken des Spektakulären ins Popgeschäft zu setzen, etwa mit einer zwar musikalisch interessanten, aber intellektuell und politisch völlig unbedarften Band namens Bow Wow Wow, in deren Mittelpunkt eine Minderjährige ins Mikrophon quiekte und nackt auf Plattencovern posierte. Sowohl der intendierte Skandal als auch der durchschlagende Erfolg blieben aus.

Bei allen Unterschieden einte die Postpunkbands laut Reynolds doch folgendes: dass sie mit Rock, der im Punk eine große Rolle gespielt hatte, nichts zu schaffen haben wollten. Rock, insbesondere Cock-Rock, war das musikgewordene Böse. Und weil im Postpunk, wiederum anders als im Punkrock, Frauen mit großer Selbstverständlichkeit Teil der Szene waren, wurden auch Geschlechterfragen musikalisch verarbeitet, vor allem aus feministischer Perspektive. Das Debütalbum der Au Pairs heißt bezeichnenderweise »Playing With A Different Sex«.

Reynolds will viel und überhebt sich doch nicht. Er wiederbelebt den Geist dieses musikalischen Aufbruchs, in dem von Anbeginn ein Stück Entfremdung von den gesellschaftlichen Verhältnissen steckte sowie eine dunkle Vorahnung auf die heraufziehende politische Ära Reagens und Thatchers. Weshalb einige der politischen Postpunkbands prompt Songs gegen die zunehmende Arbeitslosigkeit schrieben.

Man muss es einfach großartig nennen: Reynolds Gespür für Metaphern, Vergleiche und Begriffe, um Sounds und Songs fast schon synästhetisch erfahrbar, mindestens aber bildhaft werden zu lassen. Der Disco-Drum-Loop bei Joy Divisions Hit »She's Lost Control« klingt »mechanisch«, die Tom-Toms »wie Kugellager«, der Basslauf »wie ein wellenschlagendes Stahlkabel« und die Gitarre ähnelt »einer kontrollierten Explosion« (…) »als wäre eine Absperrung um das einzige echte Rockelement des Tracks gezogen worden«. Wer so schreibt, ist verliebt. Auch daran merkt man, wie sehr Reynolds, der mit Punk nie etwas am Hut hatte, der Postpunk-Ära bis heute verbunden ist. Kein Wunder: In Postpunk steckte alles, was in jede interessante Sub- oder Jugendkultur gehört: Überschwenglichkeit, Arroganz, historisch fundiertes Abgrenzungsbewusstsein, Politik und selbstverständlich: großartige Musik.

Simon Reynolds: Rip It Up And Start Again. Postpunk 1978-1984. Hannibal, 575 S., geb., 29,90 EUR.

#ndbleibt – Aktiv werden und Aktionspaket bestellen
Egal ob Kneipen, Cafés, Festivals oder andere Versammlungsorte – wir wollen sichtbarer werden und alle erreichen, denen unabhängiger Journalismus mit Haltung wichtig ist. Wir haben ein Aktionspaket mit Stickern, Flyern, Plakaten und Buttons zusammengestellt, mit dem du losziehen kannst um selbst für deine Zeitung aktiv zu werden und sie zu unterstützen.
Zum Aktionspaket

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal