Der freie Wille und die Neuronen

Dialog von Hirnforschern und Philosphen im Nürnberger Turm der Sinne

  • Inge Hüsgen, Nürnberg
  • Lesedauer: 3 Min.

Was wir wahrnehmen, ist nicht immer wahr. Unter diesem Motto bietet der Turm der Sinne, ein naturwissenschaftliches Museum in Nürnberg, Wahrnehmungstäuschungen als Selbsterfahrung. Farben scheinen sich je nach Umgebung zu ändern, unvollständige Formen werden vom Gehirn komplettiert. Aber ist es möglich, dass grundlegende Konzepte unseres Selbstverständnisses ebenfalls auf Illusionen beruhen? Nichts Geringeres behauptet die moderne Hirnforschung. Demnach ist das Ich ein Konstrukt, der freie Wille eine Illusion. Zu den prominentesten Vertretern dieser These gehört Wolf Singer, Direktor der Abteilung für Neurophysiologie am Frankfurter Max-Planck-Institut für Hirnforschung.

Die Thesen der Neurowissenschaftler sorgten weit über die Fachgrenzen hinaus für Wirbel und riefen die Philosophen auf den Plan. Denn damit wird auch der Schuldbegriff in Frage gestellt. Wer den freien Willen negiere, der entbinde den Menschen auch von der Verantwortung für sein Tun, so Jürgen Habermas.

Wie ein konstruktiver Dialog der Fachrichtungen aussehen kann, zeigte Anfang Oktober der Turm der Sinne auf seinem jährlichen Symposium. Unter der Devise »Science meets Philosophy« stand neben Wolf Singer der Magdeburger Philosoph Michael Pauen am Rednerpult. Das Programm des Symposiums unter dem Titel »Nicht wahr?! Sinneskanäle, Hirnwindungen und Grenzen der Wahrnehmung« hatte der Turm der Sinne gemeinsam mit dem Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik Tübingen zusammengestellt: Renommierte Forscher sprachen zu Themen wie visuelle Täuschungen, Tastsinn und Synästhesie.

Die über 500 Besucher erlebten zum Auftakt ein konstruktives Gespräch. Singer zeigte sich ein wenig überrascht, dass er mit Michael Pauen »gar nicht richtig streiten« könne. Der Philosoph vertritt ein durchaus mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen vereinbares Konzept der Willensfreiheit. Frei sind für Pauen alle selbstbestimmten Handlungen, auch wenn sie durch die Person determiniert sind. Die Tatsache, dass die individuelle Zuschreibung von Freiheit bei uns funktioniert, lasse darauf schließen, dass es sich nicht um eine Illusion handelt.

Die moderne Neurobiologie geht davon aus, dass alle geistigen Funktionen auf neuronalen Prozessen beruhen, dass unser Weltwissen wie auch die Regeln für Erwerb und Anwendung des Wissens in der funktionellen Architektur des Gehirns sitzen. Diese beeinflusst den Entscheidungsprozess.

Und das Ich? Während wir das Ich intuitiv im Gehirn verorten, hat sich die Wissenschaft von der Vorstellung eines solchen Zentrums verabschiedet. Zusammenhängende Wahrnehmungen werden demnach durch Ensembles von Neuronen erzeugt, ähnlich wie sich Texte aus den 26 Buchstaben des Alphabets zusammensetzen. Nach Ansicht von Singer beruhen auch bewusste Entscheidungen, die wir als frei empfinden, auf neuronalen Prozessen. In den angegebenen bewussten Gründen stecken oft nachträgliche Rationalisierungen. Stimmen die bewusste und die unbewusste Abwägung überein und stehen mehrere Entscheidungsmöglichkeiten offen, fühlen wir uns frei in unseren Entscheidungen.

Singers Konzept hat weitreichende Konsequenzen für die Rechtsphilosophie. Eine subjektive, strafwürdige Schuld gibt es nicht, wohl aber ist die Person für ihre Tat verantwortlich.

Aber bringt der Abschied vom freien Willen nicht eine weitere narzisstische Kränkung mit sich, wie sie oft mit den Entdeckungen von Kopernikus, Darwin und Freud verbunden werden? Keineswegs, erklärte Michael Pauen in seinem Vortrag. Weder stehe angesichts des derzeitigen Forschungsstands eine Krise ins Haus, noch habe es derartige Kränkungen in der Vergangenheit gegeben, zeigt sich der Philosoph überzeugt. Im Gegenteil habe die Forschung immer bessere Erklärungen für die menschlichen Fähigkeiten gefunden. Während man beispielsweise noch bis Mitte des 19. Jahrhunderts am dualistischen Leib-Seele-Konzept festhielt, sind an seine Stelle heute bessere, natürliche Erklärungen getreten. Eine vergleichbare Entwicklung diagnostiziert Pauens bei der Hirnforschung. Indes bleibe eine Reihe von Fragen offen: »Wie es kommt, dass wir neuronale Aktivität als geistigen Prozess erleben, kann bislang noch keine konkrete Theorie erklären.«

Weitere Informationen und Materialien zum Symposium im Internet unter: www.turmdersinne.de

#ndbleibt – Aktiv werden und Aktionspaket bestellen
Egal ob Kneipen, Cafés, Festivals oder andere Versammlungsorte – wir wollen sichtbarer werden und alle erreichen, denen unabhängiger Journalismus mit Haltung wichtig ist. Wir haben ein Aktionspaket mit Stickern, Flyern, Plakaten und Buttons zusammengestellt, mit dem du losziehen kannst um selbst für deine Zeitung aktiv zu werden und sie zu unterstützen.
Zum Aktionspaket

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal