Energie mit Nebenwirkungen

Epidemiologen sehen in Kinderkrebs-Studie Grund zum Handeln

  • Steffen Schmidt
  • Lesedauer: 3 Min.
Das erhöhte Risiko von Kleinkindern, an Leukämie zu erkranken, wenn sie nahe an einem Atomkraftwerk leben, wird schon seit Jahren kontrovers diskutiert. Auch nach Vorlage der jüngsten weltweit umfassendsten Studie gibt es weiter Streit. Einige Mitglieder des Expertengremiums, das die Studie begleitete, versuchten am Mittwoch in Berlin Klarheit in die Debatte zu bringen.

»In meiner ganzen akademischen Laufbahn habe ich das noch nicht erlebt, dass jemand eine selbst durchgeführte Studie am Ende derart in Frage stellt«, kommentierte der Bremer Epidemiologie-Professor Eberhard Greiser den Umgang der Leiterin der Studie »Kinderkrebs in der Nähe von Kernkraftwerken«, Maria Blettner. Blettner ist zugleich Leiterin des Mainzer Instituts für Biostatistik, Epidemiologie und Informatik, zu dem auch das Deutsche Kinderkrebsregister gehört. Die Studie im Auftrag des Bundesamts für Strahlenschutz (BfS) und des Umweltministeriums hatte nämlich ergeben, dass das Leukämierisiko von Kleinkindern unter fünf Jahren abhängig von der Entfernung zu einem Atomkraftwerk ist, d.h. je näher, desto höher das Erkrankungsrisiko. Doch radioaktive Strahlung glaubt Prof. Blettner als Ursache gänzlich ausschließen zu können.

Greiser und sein Greifswalder Kollege Wolfgang Hoffmann – beide Mitglieder des Expertengremiums des BfS zur Begleitung der Studie – widersprachen dem am Mittwoch bei einem Pressegespräch. Denn zum einen verwende Blettner ganz unzulässig zur Begründung ihrer Deutung die mit großer Wahrscheinlichkeit viel zu hohen Grenzwerte für Erwachsene. Und zum anderen habe die so genannte Fall-Kontroll-Studie durch Befragungen andere denkbare Ursachen vom Röntgen bis hin zum Insektizidgebrauch im Haushalt ausgeschlossen. Denn für all diese bekannten Leukämieursachen sei in der Studie keinerlei Abhängigkeit vom Abstand zum AKW gefunden worden. Auch der gängige Einwand, die Werte seien nicht höher als die natürliche Radioaktivität, greift nach Ansicht von Hoffmann nicht. Denn in Gebieten erhöhter natürlicher Radioaktivität habe eine britische Studie ebenfalls ein höheres Erkrankungsrisiko bei Kleinkindern festgestellt. Und die seit Jahren strapazierte Behauptung, solche sogenannten Cluster (lokale Häufungen) gebe es öfter, ohne dass sich eine eindeutige Ursache finde, lässt Hoffmann auch nicht gelten. Solche Cluster abseits von AKW oder sonst besonders radioaktiven Gebieten gebe es in Deutschland nicht. Allerdings sei bislang auch nie mit einer vergleichbar umfangreichen Fall-Kontroll-Studie untersucht worden, ob ähnliche Risiken nicht auch bei Sondermülldeponien, Chemiefabriken oder Kohlekraftwerken existieren. Wegen der glücklicherweise geringen Gesamtzahl der Leukämieerkrankungen seien derartige Studien extrem aufwendig.

Die Physikerin Inge Schmitz-Feuerhake machte deutlich, dass der Zusammenhang zwischen der Leukämieerkrankung und der Strahlung auch deswegen nicht ganz so einfach herzustellen ist, weil der Grad der radioaktiven Belastung eines Individuums mit den existierenden Methoden nicht allzu genau ermittelt werden kann. Bekannt ist im Idealfall – wenn die Messungen exakt sind und Unfälle nicht unter den Tisch gekehrt werden – nur die Menge radioaktiver Strahlung, die das AKW durch den Abzug oder das Kühlwasser verlässt. Alles andere beruht auf mathematischen Modellen und Abschätzungen über den Weg durch Nahrung, Atemluft und Trinkwasser. Nach allem, was wir über Entwicklungsbiologie wissen, kann aber die gleiche Menge einer vom Körper aufgenommenen radioaktiven Substanz im Körper etwa einer Schwangeren sehr viel weniger Schaden anrichten, als im Embryo oder im Körper des Fötus in bestimmten Entwicklungsphasen. Und da die Leukämiehäufung nur bei Kindern unter fünf Jahren beobachtet wurde, ist eine Schädigung im Mutterleib als am wahrscheinlichsten anzunehmen, meinen Hoffmann und Greiser.

Immerhin ist die Studie auch beim AKW-Großbetreiber Frankreich angekommen. Die französische Atomaufsicht will Daten über Leukämie bei Kindern in der Nähe von AKW sammeln und regt eine EU-weite Erhebung an.

Die Vorsitzende des deutschen Ablegers der Ärzteorganisation IPPNW, Angelika Claußen, sieht die Daten für schlüssig an und fordert von der Politik die gebotene Risikovorsorge: Abschaltung. Ein Medikament, bei dem derartige Nebenwirkungen nachgewiesen sind, würde man ja auch erst einmal vom Markt nehmen.

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