»Nich lang schnacken, Kopp in Nacken«

In der kalten Jahreszeit hat die »Oldenburger Palme« Hochsaison – überall steigen Grünkohlparties

  • Steffi Schweizer
  • Lesedauer: 4 Min.
Darauf stehn die Nordländer im Winter.
Darauf stehn die Nordländer im Winter.

Mit dem ersten Winterfrost beginnt alljährlich im Oldenburger Land die Grünkohl-Saison, die sich bei Weiten nicht nur ums Essen dreht. In den Küchen zwischen Eversten, Bümmerstede, Tungeln, Wardenburg, Benthullen, Hengstlage und Haschenbok werden die großen Töpfe hervorgeholt und mit der »Oldenburger Palme« gefüllt.

Der Grünkohl hat eine lange Geschichte, war er doch in schlechten Jahren bestens geeignet, sich über die Wintermonate hinweg ein ordentliches Polster anzufuttern. Bereits im 16. Jahrhundert schätzte man das wohlschmeckende Wintergemüse, das am besten mit fettem Fleisch gekocht wird. Erste Berichte über sogenannte Kohlfahrten finden sich im 19. Jahrhundert. Damals fuhren Oldenburger Bürger mit ihren Schlitten aufs Land zu einem »langen Kohl«. Diese Kohlpartien waren zunächst nur den Adligen und Wohlhabenden vorbehalten. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts beteiligten sich bürgerliche Schichten. Auch die Eisenbahn transportierte erste Kohlfahrer in die Umgebung der Stadt, wo sich die Landgastronomie in den Wintermonaten ganz auf Grünkohl spezialisiert hat. Heutzutage erkennt man am Ausflugsverhalten von Einheimischen und Touristen, dass wieder Grünkohlzeit ist.

Die Gemeinde Wardenburg, wenige Kilometer südlich von Oldenburg, bezaubert mit ihrem kleinen Ortskern und der Kirche, kleinen Häuschen und Läden, dem Landfrauen-Café und natürlich dem Grünkohl. Freilich regnet es hier oft, dazu bläst ein kräftiger Wind. Für Hiesige ist das jedoch nur »aufkommende Feuchtigkeit«. Wer übers Wochenende zur Kohlfahrt in den Nordwesten reist, sollte wetterfeste Kleidung und derbe Schuhe einpacken und noch einmal gut ausschlafen. Denn eine Grünkohlfahrt zieht sich ziemlich in die Länge.

An den Wochenenden dann machen sich Straßen- und Firmengemeinschaften, Kegelklubs, Kirchen- und Sportvereine nach einer Stärkung mit Tee, Grog, Käsehäppchen und Frikadellen auf den Weg zum Deich. Jede Kohlgesellschaft hat ihre eigene Zick-Zack-Tour, die immer nur einer aus der Gruppe kennt. Mit personengebundenem Trinkgefäß um den Hals folgt die Truppe dem beleuchteten Bollerwagen, auf dem Proviant und CD-Player verstaut sind. An jeder dritten Wegekreuzung wird angehalten. Mit Spiel und Spaß, getarnt als sportliche Betätigung, verkürzt man sich den Weg zum Gasthaus. Die Männer wetteifern im Werfen schwerer Kugeln, das nennen sie boßeln. Die Frauen nehmen dazu Handfeger, Gummistiefel oder Teebeutel. Stehen die Sieger fest, heißt es zu einem kleinen Kurzen: »Nich lang schnacken, Kopp in Nacken!«. Wer kurzzeitig im Gelände den Anschluss an die anderen Kohlfahrer verliert, versteht erst so richtig die wichtige Funktion des blinkenden Bollerwagens. Dann heißt es: Immer dem Licht nach.

Nach dieser Tour durch die frische Winterluft wartet als Höhepunkt ein deftiges »Ollnborger Gröönkohl Äten«, bei dem natürlich auch Pinkel – ziemlich fettige Mettwürste – nicht fehlen. Während die Männer die Bollerwagen diebstahlsicher parken, herrscht auf dem Damenklo schon Hochbetrieb, um Stiefel gegen Pumps und Wetterhose gegen Rock zu tauschen. Gern mischt sich an dieser Stelle ein kleiner Sauer Power unter die Weiblichkeit, und die Party droht sich zu verselbstständigen.

Doch die Livemusik aus dem Saal stimmt schon auf den Abend ein. Das meint nicht nur den leckeren Kohl. Die Wahl von Grünkohlkönigin und -könig durch Spiele, Los oder Manipulation will keiner verpassen. Zum Ehrentanz wird das gekrönte Paar sogleich mit den Insignien der erworbenen Würde ausgestattet. Kreativität und freundlicher Boshaftigkeit sind dabei keine Grenzen gesetzt: laubgesägte Holzschweinchen und originale Schweinekopfunterkiefer gelten durchaus als Schmuck. Dann tanzt und feiert der ansonsten in sich ruhende Norddeutsche bis Mitternacht.

Wer als Fremder auf ein kleines Wortgeplänkel vorbereitet ist und immer mal ein »Moin-Moin« selbst zu nächtlicher Stunde zur benachbarten Kohlgesellschaft hinüber ruft, für den bedeutet das unter Umständen den Beginn einer wunderbaren Freundschaft.

Infos: Oldenburg Tourismus und Marketing GmbH, Markt 22, 26122 Oldenburg, Tel.: (0441) 36 16 13-40, Fax -55, E-Mail: info@oldenburg-tourist.de, www.oldenburg-tourist.de oder www.oldenburger-gruenkohl-akademie.de

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