Werbung

Das verschleierte Gretchen

Staatstheater Cottbus: Christoph Schroth inszenierte Goethes »Faust. Der Tragödie erster Teil«

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 7 Min.

Die Inszenierung bleibt auf dem Teppich. Auf dem Teppich kniet Gretchen. Gen Mekka gerichtet. »Meine Ruh ist hin.« Gretchen ist eine streng und weiß Verschleierte. Die Liebe aber schafft es, dass die Muslimin den Gebetsteppich mit den Füßen, aufgeregt und erwartungsvoll, wegstoßen wird. Mit Faust gemeinsam löst sie das Schleiertuch. Dessen Spangen fallen auf den Boden, knallen geradezu in diese stillste Stille der Inszenierung hinein. Auch die Haare Gretchens fallen, sie fallen ihr auf die Schultern, als breche ein Damm: eine große dunkle Welle Schönheit. Er und sie jetzt unter dem Schleier, beide unter wohligstem Schock, die Burka als Baldachin ganz aus Leichtigkeit; das neue Himmels-Zelt.

Am Ende, in der Todeszelle, die wieder Fausts leere hohe Arbeitsgruft ist, wird Gretchen das Schleiertuch zusammenballen und wie ein Kind wiegen, wird dieses weiße Tuch knüllen oder wehen lassen, als könne daraus ein fliegender Teppich werden, kein Teppich für die Flucht in reale Welten, aber ein Märchenteppich in den Traum, den man von diesen realen Welten haben kann. Wenn man denn nur irr und wirr und verzweifelt klarsichtig genug ist.

Schon ihr Bruder Valentin hatte, die Schwester verfluchend, zwei Steine in der Hand gehabt – auch in ihrer Zelle erlebt Gretchen, die's mit einem Europäer trieb, die Albträume von Schuld und Strafe als Aufmarsch schwarzer Gestalten, die ein Puppe in der Bühnenmitte steinigen werden. Chor und Koran. Goethe: statt west-östlichem Diwan das Strafgericht religiöser Unvereinbarkeit.

Dies ist der wohl entschiedenste Zugriff von Christoph Schroth, der am Staatstheater Cottbus »Faust. Der Tragödie erster Teil« inszenierte (Bühne: Jochen Finke). Vor nahezu dreißig Jahren war seine Schweriner Interpretation des Goethe-Werkes dem faden offiziellen DDR-Geist in die gelähmten Knochengelenke gefahren, das Mecklenburgische Staatstheater wurde damals zum Pilgerort, »Faust« als fröhliches Spektakel, als freches Gleichnis, als böser Blick auf die Gegenwart.

Es dauert, bis die neuerliche Inszenierung Haftmittel produziert, die den soliden, sauberen Vorüberfluss der bekannten Dinge aufhalten und Prägsamkeit erzeugen. Gretchen vor allem muss erst kommen – und in ihrem Untergang die Retterin sein. Johanna-Julia Spitzer offenbart ein quasi selbstbewusst fügsames Wesen, in dem kleine spitze Keime eines fast heiteren, souveränen Trotzes (»ach, wir Armen«) und einer gesteuerten Aufsässigkeit immer wieder gegen die sittsame Oberfläche stoßen. Jetzt hat der Abend eine wirkliche Seele. Das Böse daran: Diese Seele darf sich nur in der Tragödie entfalten, im Schmerz des Verstoßenwerdens. Schroth und seine Schauspielerin vermeiden dabei jede Sentimentalität, die Inszenierung behält ihren »berichtenden«, vorwärtsdrängenden Rhythmus, hat aber just in den Szenen mit Gretchen plötzlich eine drückend lakonische Härte.

Im Schlussbeifall kniet Faust-Darsteller Börner vor dem Regisseur. Hier muss sich ein Dankbarkeitsbedürfnis angestaut haben, das allein mit dem Abend wahrscheinlich nicht zu erklären ist. Christoph Schroth, der gute Geist vergangener guter Cottbuser Theaterjahre: Eine Wirkung, die anhält und deren aktueller Grad vielleicht gar nicht so sehr (nur) mit dem Resultat dieser jetzigen Inszenierung zu tun hat (Resultat: merkwürdiges Wort in Zusammenhang mit Kunst), sondern weit mehr mit einer Arbeitsatmosphäre auf dem Wege dahin.

Es gibt ohnehin Aufführungen, deren Schönheit sich weniger aus der unmittelbaren, geballt und wirkungsmächtig auf uns zukommenden ästhetischen Kraft ergeben, sondern aus Reihungen des Ungefügen, Angedeuteten und Versuchten. Ein wenig geht es mir so bei diesem »Faust«: Er will – speziell in der Gretchen-Geschichte – eingreifen in akute gegenwärtige Diskussionen ums Religiöse und Säkulare, und dieser Wille schafft sich sein Kolorit aus Zeitgenossenschaft, ein Kolorit, das sich mitunter neben die Geschichte stellt.

Diese Zeitgenossenschaft versetzt den Faust in einen hohen, weiten, leeren Arbeitsraum mit verlorenem Sessel darin, eine Hermetik der kalten, kahlen Wände, die an Chefetagen in Häusern sehr weit hoch überm Realen denken lässt. Die Litaneien der Faustschen Vergeblichkeitskrisen werden in den Laptop gehackt, später auch die Teufelspakt-Setzungen – die Finger schlagen dabei abwechselnd aufs Gerät, ohne dass Mephisto und Faust jeweils noch auf Tastatur und Monitor schauen; überhaupt wird Text bisweilen abgehaspelt, Mephisto dreht mit den Händen die Leier dazu; »Faust«, der im Dauergebrauch verschlissene Stoff.

Also, die Zeitgenossenschaft: Die Arbeitszimmer-Tür öffnet sich per Fernbedienung; Schüler Wagner (Oliver Seidel) kommt, um den Meister zu hören, mit Rekorder und Mikrofon; das Fläschchen, mit dem Faust sein Erdenleben beenden will, ist eine Drogenspritze; die Verjüngung in der Hexenküche geschieht in einem Genlabor; die eitel-kleinbürgerliche Staffage des Osterspaziergangs kommt nordic-walkend einhergestampft; und wenn der Stammtisch in »Auerbachs Keller« losbrüllt, man fühle sich wohl wie »fünfhundert Säue«, dann wird das, sehr schief, nach Beethovens Begleit-Ode zur deutschen Einheit gedröhnt; zwischendurch scheint es ein wenig nach Nationalhymne zu klingen. »Faust« als Bezüglichkeits-Spötterei; lauter kleine Rachezüge gegen eine bieder schnurrende Realität des frostig Heutigen.

Die Aufführung wirkt bescheiden, sie giert nicht nach übertriebener Auffälligkeit. Sie formiert sinnfällige Schattenspiele, lässt auf oder zwischen großen Podestquadern spielen, und immer wieder wecken Klaviertöne Spannung, wann endlich der dissonante, schmerzhafte Klang kommt. Schroth hat Mut, sich einer Modernität zu verweigern, die ohnehin nicht seine Sache wäre. Es ist ein Mut, der eine gewisse Traurigkeit ausstrahlt; als spreche auch in Schroth selber, in Teilen, der müde abgearbeitete Faust, oder der Gloster in Shakespeares »Lear«: Man hat das Beste seiner Zeit gesehen. Und getan. Der Preis dieser Entschiedenheit im Unzeitgemäßen, die freilich etwas Stolzes hat, besteht in Phasen eines behäbigen Mummenschanzes (Hexenküche, Walpurgisnacht); da wird auch gleichsam bekennerisch dem alten Theaterapparat nachgewunken, der in den Umbauszenen – in heutigen Zeiten der Leere, des Lichtdesigns – noch einmal sein Knarren und seine ungelenke Langsamkeit zeigen darf.

Kai Börner ist ein schlurfiger, noch im Selbstzorn sehr energieloser Faust; später, jung geworden, bleibt er eher in einem großen bübischen Staunen, als dass ihn Leidenschaft weg- oder hinrisse. Sein durchgehend krähiger, dann jungenhaft heller Ton hat eines gemeinsam mit dem bestimmend aufgeräumten Frohlocken des Mephisto von Thomas Harms: Es herrscht zwischen beiden eine gewisse forcierte Ein-Tönigkeit, bei der Fausts Wechselbad zwischen Verführungsrausch, Abhängigkeitserwachen und Widerwärtigkeitselend erst mählich spürbar, akzentesetzend wird.

Harms Mephisto ist flink, nüchtern dienerisch, kein Absahner des oft gesehenen zynischen Pointenfeuerwerks. Ein Arbeiter des antiprometheischen Gegenbeweises, im billigen Nadelstreif eines Sklaven im höheren Hausdienst – dieser glatzköpfige Mephisto ist nämlich ein Schwarzer. Schroth möchte einen Skeptiker der Tiefe zeigen, einen Kenner der Nachtasyle und der dritten Welt (beim Osterspaziergang taucht er als Bettler auf) – das Böse als Produkt sozialer Erfahrung.

Die Handlung mag diesen Gedanken nicht automatisch hervorbringen und auch nicht auf Dauer stützen, aber einmal vom Regisseur geäußert und in der Figurentypisierung zum Körper geworden, ist mit diesem Gedanken doch immerhin der Stoff aufgetan, um nach der Aufführung zu reden, zu streiten. Denn sehr wohl hat sich am Ende des dreistündigen Abends jene weltoffne Nervosität übertragen, mit der Schroth seinem Leiden an der Welt eine Geschichte beigeben möchte. Wissend, dass das hochgespannte Ziel an gewünschten Assoziationen zur globalisierten Welt zugleich das ist, was die Möglichkeiten der Inszenierung übersteigt.

Seinen ersten »Faust« in Schwerin inszenierte Schroth zehn Jahre vor Niedergang des roten Sterns. Mephisto trägt, an der linken Hand (links, wo das Herz ist, das Schmerzzentrum), einen roten Handschuh. Aufruhr ist nicht mehr utopische Stern-Stunde der Massen, sondern zynisches Faustrecht der Einzelnen.

Und wo Gretchen zugrunde geht, stehen noch die Wände von Fausts hohem kaltem Zimmer, und dort ist nach wie vor zu lesen, was er am Anfang mit Kreide hinschrieb: »TAT«. Zu handeln: Freiheit des Menschen und sein Fluch. Und zwischen beidem keine Balance, nur immer Tragödien, die sich uns weiter auf die Spielpläne setzen.

Nächste Vorstellung: 20. Februar

#ndbleibt – Aktiv werden und Aktionspaket bestellen
Egal ob Kneipen, Cafés, Festivals oder andere Versammlungsorte – wir wollen sichtbarer werden und alle erreichen, denen unabhängiger Journalismus mit Haltung wichtig ist. Wir haben ein Aktionspaket mit Stickern, Flyern, Plakaten und Buttons zusammengestellt, mit dem du losziehen kannst um selbst für deine Zeitung aktiv zu werden und sie zu unterstützen.
Zum Aktionspaket

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal