Die Rumpöbler vom Alexanderplatz

Zwei Obdachlose wegen antisemitischer Ausfälle und Hundeattacken angeklagt

  • Lesedauer: 4 Min.
Peter Kirschey aus Berliner Gerichtssälen
Peter Kirschey aus Berliner Gerichtssälen

Sie verbreiten durch ihren Anblick und ihr Auftreten bei Straßenpassanten ein unbehagliches Gefühl. Man ist abgestoßen und zeigt Mitgefühl zugleich. Sie sind in Gruppen am Alex oder am Ostbahnhof zu Hause, ausgerüstet mit Flaschen oder Büchsen und meist von einer Schar Hunden umgeben. Wer kann, macht einen großen Bogen um sie, um nicht in Gefahr zu geraten, von ihnen angepöbelt zu werden. Zwei aus der Szene der Ausgestoßenen und Obdachlosen stehen seit gestern vor Gericht, der 27-jährige Florian F. und der 31-jährige Stefan W.

Man sieht ihnen die ganze Erbärmlichkeit ihres Lebens an. Beide von Krankheit gezeichnet, von Alkohol und Drogen innerlich verstümmelt, ohne Beruf, ohne jemals Arbeit gehabt zu haben und ohne dauerhafte Bleibe. Sprechen und Zuhören fällt ihnen schwer. Florian landete mit 15 Jahren auf der Straße, Stefan mit 14. Aus ihren brav-miefigen westdeutschen Kleinstädten zog es sie nach Berlin in der Hoffnung auf eine Lebenschance. Sie brachen alle Brücken zu Familie und Freunden ab. Doch alle Wünsche und Hoffnungen haben sich bei beiden in der Hauptstadt nicht erfüllt. So sind aus ihnen lebende Wracks geworden, Gestalten, die ohne gesellschaftliche Hilfe nicht mehr auf die Beine kommen. Die einzigen Freunde sind ihre Hunde. So spricht Stefan mit seinem Vierbeiner nur auf Polnisch – zur Erinnerung an seine verflossene polnische Freundin, die ebenfalls aus der Obdachlosenszene kam und irgendwann einmal verschwunden war. Auch untereinander gibt es keine Freundschaft, es sind Zweckbündnisse für den Moment der Begegnung. Jeder kämpft für sich allein ums Überleben. Jeder für sich muss sich einen Panzer zulegen, um den nächsten Tag zu überstehen.

Angeklagt sind sie wegen einer Scheußlichkeit im Januar. Versuchte gefährliche Körperverletzung, Volksverhetzung und Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen, heißt es in der Anklageschrift. Die Obdachlosengruppe kam an jenem 16. Januar aus einer Suppenküche, wo sie ihre tägliche Mahlzeit zu sich nehmen konnte. Auf dem Rückweg zog sie gegen 15.55 Uhr durch die Große Hamburger zur Oranienburger Straße und traf dort auf eine Gruppe Schüler der Jüdischen Oberschule. Einer fragte nach einer Zigarette, der andere verneinte. Die Saat für einen Streit mit bösen Folgen war gelegt.

Mit »Judenschweine« sollen die Obdachlosen die Schüler beschimpft und die Hunde auf sie gehetzt haben. Ein Junge, Stanley C., konnte sich vor den wild gewordenen Tieren nur retten, indem er in eine Bäckerei flüchtete. »Wir machen euch fertig«, soll die Gruppe den Schülern nachgerufen und zur Verabschiedung den Arm zum »Hitlergruß« erhoben haben. Die Situation war nur deshalb nicht weiter eskaliert, weil der Sicherheitsdienst der jüdischen Schule die Polizei gerufen hatte.

Die traf auch nach wenigen Minuten ein, Florian und Stefan wurden verhaftet und sitzen seitdem in Untersuchungshaft. Der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit hatte unmittelbar nach der Tat von einem unerträglichen antisemitischen Angriff gesprochen.

An Fremdenfeindlichkeit will sich Stefan – Florian schweigt zu den Vorwürfen – nicht erinnern. Der Ruf »Bonzenschwein« sei gefallen, sagt er mit einigen Mühen. Man habe gewusst, hier würden »Kinder von Reichen« unterrichtet. Aber antisemitisch sei man nicht. Die Tätowierung an seinem Körper zeigt jedoch an prominenter Stelle ein Hakenkreuz. Ganz so ahnungslos dürfte die Gruppe also nicht gewesen sein. Schließlich soll es nach Stefans Aussage der berühmte unbekannte Dritte gewesen sein, der rassistisch oder antisemitisch gepöbelt habe.

Doch die Zeugen und Opfer können sich gut erinnern, wie und was die beiden gebrüllt haben. Die Angst, sagt Stanley, steckt ihm immer noch in den Knochen. Um Hunde macht er seitdem einen großen Bogen, bestimmte Orte in der Stadt meidet er, um nicht einem Racheakt zum Opfer zu fallen.

Egal, welche Strafe Florian und Stefan am Ende des Prozesses erhalten – zwei Verhandlungstage sind eingeplant. Die beiden brauchen mehr als nur einen starken Helfer, der sie fest an die Hand nimmt. Nur wenn sie eine Lebenschance erhalten, werden sie nicht mehr versuchen, noch weiter nach unten zu treten.

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