Ein Dorf im Würgegriff der Politik

Im Theaterforum Kreuzberg ist Jugendgewalt mit Todesfolge »Der Kick«

  • Volkmar Draeger
  • Lesedauer: 3 Min.

Am Ende bleibt die Szene ein roter Fleck, Blutlache und Brandmal. Zwei Stunden lang haben Christina Motsch und Michael Barz in 17 Rollen Licht in ein grausiges Dunkel zu bringen versucht: den bestialischen Mord an dem 16-jährigen Marinus Schöberl durch drei kaum ältere Kumpel seines Dorfes. Was dort Mitte 2002 geschah, katapultierte das brandenburgische Potzlow ins öffentliche Bewusstsein.

Bei der Festnahme des Tätertrios scheint die Frage nach Schuldigen und Opfern klar. Doch so einfach machen sich die Autoren Andres Veiel und Gesine Schmidt die Sache nicht. Ihr Stück »Der Kick», uraufgeführt 2005 am Maxim Gorki Theater, von Beatrice Scharmann und den Chekh-Off Players nun fürs Theaterforum Kreuzberg eingerichtet, forscht tiefer, montiert Aussagen Beteiligter zu einer beklemmend vielschichtigen Inszenierung.

Zu Wort kommen zwei der Täter, ein Brüderpaar, während des Verhörs, deren Eltern, die Mutter des Opfers, Freunde, Ausbilder, Erzieher, Gutachter, Staatsanwalt, Bürgermeister, Pfarrer. So entsteht ein Knäuel mehr oder weniger grob gesponnener Ausreden, Beschönigungen, Verharmlosungen, Ablenkungsmanöver, ein Puzzle auch, das einen Ort zum Spiegel gesellschaftlicher Umbrüche werden lässt.

Das Schweigen, sagt der Pfarrer, sei die schlimmste Untugend der Dorfbewohner. Die Ursachen dafür reichen bis in die Nazi-Ära. Damals führten die Todesmärsche ins KZ auch durch Potzlow. Wegsehen wurde zur Überlebensstrategie. Weder die vielen Flüchtlinge aus dem Osten ab 1945 noch die später Zugezogenen fühlten sich in dem Ort heimisch. Auch nicht die Familien der Täter und des Opfers.

Dem Dorf fehle der zivilisatorische Standard, urteilt der Staatsanwalt. Zu DDR-Zeiten wurden die Bauern in die LPG gezwungen. Wie gut es vielen dennoch ging und was sie ihren Kindern bieten konnten, schildert stolz der Tätervater. Die Wende wurde zum verheerenden Einschnitt: das halbe Dorf arbeitslos, mancher dadurch physisch krank. Unter den Sorgen der Eltern wachsen die Kinder auf, trinken frühzeitig, nehmen Drogen, leben Gewalt aus. So auch Opfer und Täter: Lerndefizite, zeitweise Sonderschule, Frühabgänger. Marinus, still, sprachgehemmt, trink- und diebstahlfreudig, die Täter zudem rechtem Gedankengut offen. Die Gewalt, der das Brüderpaar selbst ausgesetzt war, schlägt um in Gegengewalt.

Was sie alle zu Protokoll geben, lässt die Regisseurin auf Sägespänen in jenem angedeuteten Schweinestall spielen, in dem Marinus zu Tode kam. Autoreifen, Metallkette, Stallminiatur sind die sparsamen Requisiten. Schicksale blättern sich auf, zu bedrückender Realität addiert sich tumber Ausländerhass. Dass sich niemand schuldig bekennt, jeder nur Opfer sein will, ist das Haarsträubende. Ein ganz normales Dorf, einst sogar schönstes Dorf Deutschlands, schwärmt der Bürgermeister. Nichts mehr los hier, alles geschlossen, klagt der Tätervater. Beide Söhne wurden verurteilt, ihre Eltern sind heute verschuldet und krank. Marinus' Mutter starb am Tag der Urteilsverkündung an Krebs.

Wieder 2., 3., 8.-10., 29.-31.5., 1.6., Theaterforum Kreuzberg, Eisenbahnstr. 21, Kreuzberg, Kartentelefon 700 71 710; 16.-20., 23., 24., 26.4., Theaterhaus Mitte, Koppenplatz 12, Mitte, Kartentelefon 280 41 66

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