In der Höhle

Nick Cave im Berliner Tempodrom

  • Andreas Kötter
  • Lesedauer: 3 Min.

Ein von Bier geleerter Plastikbecher wird mit Wucht aus den Tiefen des Auditoriums auf die Bühne geschleudert und nach dem erstaunt belustigten Blick, den der australische Sänger Nick Cave in das Publikum wirft, scheint jetzt plötzlich alles möglich: der plötzliche Abbruch dieses sonderbaren Konzertes genauso wie die Verdichtung der klanghaft-mystischen Atmosphäre durch ein beiläufig vollzogenes blutiges Jungfrauenopfer.

Natürlich war es zu erwarten, dass Nick Caves Auftritt am vergangenen Mittwoch im nahezu ausverkauften Berliner Tempodrom kein Rockkonzert im klassischen Sinne ergeben würde. Genauso wie sich seine gefühlvoll-musikalische Auseinandersetzung mit alttestamentarischen Konflikten resistent gegenüber einem Missbrauch als Sound-Tapete für Kaufhäuser und den Radio-Sound-track des Alltags erwiesen hat, entzieht es sich gängigen Rock-Konzert-Ritualen, wenn das halbe Dutzend Musiker von Caves Hausband »The Bad Seeds« in verschiedenen Geräusch-Koloraturen den großen Themen Schmerz, Tod, Liebe und Einsamkeit im Grenzland zwischen Geräusch und Klang kraftvoll verzweifelten Ausdruck verleiht. Zu komplex ist die musikalische Struktur seiner Songs, die mit jedem Lied von neuem der dynamischen Dramatik der erzählten Geschichten folgt, zu gemischt ist das Publikum, das sich im Laufe der wechselhaften Karriere des Künstlers – aus vielschichtigen Geräuschkollagen, kitschtriefenden Balladen, deftigem Matrosen-Rock'n'Roll und introvertierten Kunstliedern um das versammelt hat, was – mehr als ein musikalischer Stil – immer und vor allem anderen nur Nick Cave ist. So zeigte sich dann bis zu diesem Zeitpunkt – statt in ekstatisch massenrauschhafter Entladung – die Seelenverwandtschaft der Fans mit dem Künstler auch auf jeweils ganz individuelle Weise im armenverschränkten, nachdenklichen Nicken der Köpfe genauso wie im wildem, männlichen Hüpfen oder selbstvergessenem, weiblichen Wiegen der Hüfte.

Obwohl das neue Album »Dig, Lazarus, Dig!!!«, dem als Teil einer ausgiebigen Europa-Tour gleich zwei Berlin-Konzerte gewidmet sind, aufgrund satter Gitarrenriffs und kompakten Harmonie-Folgen mit einer fast schon untypischen Rock'n'Roll-Oberfläche ausgestattet, als eine der besten Veröffentlichungen des Künstlers innerhalb der letzten zehn Jahre gefeiert wird, offenbart sich das Kunstwerk Nick Cave an diesem Abend vor allem bei den älteren Songs der Band, als aus der akustischen Dimension seiner Lieder genauso wie aus seinen großen Gesten, seiner Pausensetzung, der Choreografie seiner Schritte, seinem prächtigen Schnauzbart und einer gehörigen Portion Selbstironie zusammengesetzt. Es ist diese Art der Selbstironie, welche Caves dunkle Höhle aus moralisch aufgeladener Bedeutung mit der Gegenwart verbindet, und die gibt er gutgelaunt selbst bei der Darbietung der großartigen Ballade »Ship Song« nicht auf.

Statt den von einem Fan entgegengenommenen riesigen Strauß Rosen in einer klischeehaften Rock-Star-Bewegung mit weitem Schwung in das Publikum zurückzuwerfen, behält er ihn in fast jungenhafter Verlegenheit bis zum Ende des Liedes brav in der Hand, um ihn dann in den inzwischen mit Wasser gefüllten zugeworfenen Becher mit einem ehrlichen Lächeln an den Rand der Bühne zu stellen. Begleitet vom warmen Beifall des Publikums entspricht dieser vollkommen unpathetische Augenblick auch der Besonderheit der Beziehung Caves zu Berlin – genauso wie dieses außergewöhnliche Konzert einer restlos gelungenen Künstlerexistenz.

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