Der Gepäck-Träger

Heute wird der Schauspieler Hermann Beyer 65

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.

Es gibt gepäcklose Schauspieler. Man sieht ihnen nichts an. Sie schleppen nichts mit. Sie plagt keine Schwere. Hermann Beyer ist kein gepäckloser Mensch. Man sieht ihm ein Leben an. Er scheint davon zu träumen, sich ab und zu auch mal los zu sein, es gelingt ihm nicht, daraus holt sich seine Kunst diese geheimnisvoll mitschwingende Trauer, diesen eingefurchten Ernst, diese unausgesprochen bleibende Bitte, sich nicht für die Grauwerte des Gemüts rechtfertigen zu müssen. Die prägenden von Hermann Beyers Theater- und Filmmenschen waren, sind trotzig, kantig, ohne davon abzulassen, ihre Schwäche oder gar Ohnmacht wie einen redlich erarbeiteten Stolz vorzuführen.

Kann man sagen, Beyer sei – fast zwanzig Jahre nach dem geschichtlichen Bruch – ein DDR-Schauspieler? Vielleicht eine so schiefe wie unnötige These. Aber es ist da eben diese Frage nach dem erwähnten Gepäck. Beim Lauf in die Freiheit kann Gepäck stören, Freiheit ist immer auch eine Einladung zur Entledigung. Beyer aber macht spielend den Eindruck, als habe er sein Gepäck nur entschiedener, fester auf den Buckel seiner Seele gezurrt und ihm Mut zugesprochen: Wir halten durch! Worte sind das in diesem leise singenden Tonfall, in der Färbung zwischen sächsisch und thüringisch. Beyer legt Wert auf Färbungen, und da sind wir nun direkt bei dieser DDR-Herkommensthese. Mag sein, dass sich der Bürger Beyer hauptsächlich als heimatlos empfand, ob im Osten oder im Westen, ob an der Berliner Volksbühne (1972 bis 1980) oder am Berliner Ensemble (1983 bis 1999). Aber heimatlos in den Kunstauffassungen vagabundierte er nicht.

Und so repräsentierte Hermann Beyer nämlich etwas sehr DDR-spezifisches, das nach dem Ende des Staates die ausgesprochen störrische Anwesenheit dieses Darstellers in der neuen Zeit kennzeichnete. Dieses Merkmal der DDR-Schauspielkunst: Noch unverwechselbare Protagonisten, ja selbst Stars stellten sich kaum, trotz des sehr kreatürlichen Bedürfnisses nach Wirkung, vor den gemeinsamen Auftrag, der zuvörderst Aufklärung hieß.

Mochte der westdeutsche Schauspieler tiefst von Ensemblegeist durchdrungen sein, er war doch immer – und ist doch immer – der Agent seiner selbst, er hat also noch dort, wo er sehr ehrlich in der gemeinsamen Botschaft einer Inszenierung aufgeht, einen feinen Nerv für Strahlungen, die nur ihn persönlich und seinen Marktwert betreffen. Vielleicht läuft das meistens in Schichten des Unterbewusstseins ab, die man gar nicht beweiskräftig zur Diskussion stellen kann – aber in Hermann Beyers Auftreten (oder seiner Abwesenheit) just nach dem Ende der DDR konnte man eine persönlichkeitsstarke, ungelenke Distanz zu genau diesen Selbstverkaufstechniken auch der Schauspielerei entdecken. Sie ist vielen DDR-Künstlern fremd gewesen, ist einigen fremd geblieben, und es fiel bei Beyer stärker auf als bei anderen. Der Gepäck-Träger eben: Da ist nichts mit flinkem Herumspringen – Charakter strahlt nicht, Charakter ächzt und bleibt auch mal stehen, wo andere in die Popularität rennen.

So hat Beyers Aura eine deutliche Spur aus anderer Zeit, anderem Tempo, anderer Lebensart. Er steht auf rührende, aufstörende Weise neben der schnurrenden Gegenwart. Selbst eine kleine Rolle wie der Vater des Kripo-Beamten Hinrichs (Uwe Steimle) im »Polizeiruf 110« erzählt diese verquere Betulichkeit, die sich gleichsam mit Stullenpaketen gegen den Modernismus einer allwaltenden Einsamkeitskultur wehrt.

Unvergesslich, bei so zahlreichen DEFA- und TV-Rollen, der Lehrer und Hobby-Forscher Pötzsch im Film »Märkische Forschungen« (Regie: Roland Gräf): ein schmächtiger, sanfter, aber herzbewegend beharrlicher Mensch verteidigt die Wahrheit gegen das gültige Dogma; Beyer als wunderbare Feier des tapferen Provinziellen, ein nahezu lautlos, aber doch sehr gehörig Mut machendes Pendant zum gewieft-opportunistischen Staatsgelehrten, den Kurt Böwe grandios als massig, mies und mächtig zeichnete.

Der Bruder des Regisseurs Frank Beyer wurde 1943 in der Skatstadt Altenburg geboren. Er besuchte die Schauspielschule in Berlin, begann am Maxim Gorki Theater und Hans-Otto-Theater Potsdam seine Laufbahn. An der Volksbühne wurden die Begegnungen mit Heiner Müller und Regisseur Fritz Marquardt (»Die Bauern«) zu entscheidenden Markierungen. Beyers Spiel war so etwas wie eine Brücke zwischen der harten, schneidenden Poesie Müllers und jenem vertrackten, listigen Zauber des Naiven, Kreatürlichen, den Marquardt so erdfarben und clownsschlau zu entfalten vermochte. Wie ein Tabori des Ostens. Als Müller Anfang der achtziger Jahre seinen »Macbeth« inszenierte (mit Mühe, Harfouch, Beyer), geriet die Aufführung in den eifernden Unverstand unserer damaligen FDJ-Kulturkonferenz, und wenn diese Tagung unvergesslich bleibt, dann nur wegen des anschaulichen, geschichtsnotorischen Beweises, wie unsterblich sich Ideologie vor einem Dichter blamieren kann.

Am Berliner Ensemble der DDR-Endzeit war Beyer neben Ekkehard Schall in Volker Brauns »Großem Frieden« zu sehen, beide Schauspieler gaben bereits 1977 ein packendes Duell im Berliner »bat«, Schall als Danton, Beyer in der Rolle des Robespierre. Da stand Stahlkante gegen Fleisch, gezirkelte Technik gegen zirkulierendes Blut – im Protagonismus dieser zwei sehr unterschiedlich Besessenen hätte das BE eine Kraft zurückgewinnen können, wie sie einst, in frühen Jahren am Schiffbauerdamm, in der Spannung zwischen Schall und Thate gelebt hatte.

Nie hat Beyer hauptstädtische Dünkel gehabt, er hat in Meiningen gespielt, in Greifswald, im Deutschland seiner erweiterten Heimatlosigkeit gastierte er in Chemnitz (»Lear«) und Schwerin (Tschechows »Möwe«). Er fragt jede Inszenierung weiter stur: »Warum?« und meint damit Größeres als die eigene Rolle. Sein Gestus sucht soziale Böden; wer Gepäck hat, der versteht unter sicherem Auftreten mehr als nur den – Auftritt.

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