nd-aktuell.de / 28.06.2008 / Kultur / Seite 18

Der Heilige hat seinen Alltag zurück

Franz Kafka und seine Welt: Neue, prachtvolle Bücher zum 125. Geburtstag

Klaus Bellin
Passfoto um 1915/16
Passfoto um 1915/16

Der Brief kam aus München und bat ihn zu einer Lesung eigener Arbeiten. Kafka wunderte sich. Wer wusste dort schon von seiner Existenz? Es gab ja, abgesehen von einigen Zeitschriftenveröffentlichungen, bisher nur zwei schmale Büchlein von ihm, »Die Betrachtung«, 1912 in 800 nummerierten Exemplaren bei Rowohlt gedruckt, und das im Mai 1913 bei Kurt Wolff erschienene Fragment »Der Heizer«. Aber er nahm die Einladung an, und er hielt an dem Entschluss auch fest, als sich herausstellte, dass man eigentlich seinen Freund Max Brod hatte sehen wollen. So reiste Franz Kafka, nachdem alle durch den Krieg verschärften Formalitäten erledigt waren, im November 1916 von Prag nach München, um sich in einer Galerie moderner Kunst wildfremden Menschen zu präsentieren. Es war das erste Mal, und es wurde ein Malheur.

Kafka las seine Erzählung »In der Strafkolonie«, die einzige fertige Arbeit, die noch nicht publiziert war, eine Prosa voller Grausamkeit, die beklemmende Geschichte eines Delinquenten, dem in einer höllischen Prozedur das übertretene Gesetz »auf den Leib geschrieben« wird, buchstäblich in die Haut geritzt. »Mit den ersten Worten schien sich ein fader Blutgeruch auszubreiten«, schrieb der Schweizer Schriftsteller Max Pulver, der unter den Zuhörern saß, »ein seltsam fader und blasser Geschmack legte sich mir auf die Lippen.« Und er schilderte, wie Kafkas Bilder messerscharf in ihn eindrangen, wie es plötzlich einen dumpfen Fall gab und große Unruhe im Saal entstand, wie man eine ohnmächtige Dame hinaustrug, gleich darauf zwei weitere Frauen und wie andere Besucher rasch flohen, indes der Autor tapfer weiterlas. Max Pulver, ganz in seinem Element, hatte Augen nur fürs Entsetzen. Nebensache, dass Rilke im Saal war und mit ihm namhafte Autoren und Kritiker. Nicht der Rede wert, dass Kafka erstmals außerhalb Prags zu erleben war. Und er fragte sich auch nicht, wie viel Wirklichkeit das geschilderte Grauen womöglich enthielt. Andere fragten auch nicht. Eine Münchner Zeitung sah am nächsten Tag in Kafka nur einen »Lüstling des Entsetzens«.

Ganz anders Kurt Tucholsky. Als die Erzählung, leicht gekürzt, im Mai 1919 bei Kurt Wolff erschien, nannte er sie in der »Weltbühne« eine »Meisterleistung« und sprach von einer »grenzenlosen und sklavischen Verneigung« des folternden Offiziers »vor der Maschine dessen, was er Gerechtigkeit nennt, in Wahrheit: vor der Macht. Und diese Macht hat hier keine Schranken.« Tucholsky gehörte zu den wenigen, die den Rang Kafkas gleich erkannten. Schon 1913 hatte er sich voller Anerkennung über die »Betrachtung« geäußert. Rilke, ebenso berührt vom Eigentümlichen dieses Dichters, bat Kurt Wolff, ihn für alles vorzumerken, »was von Kafka bei Ihnen an den Tag kommt«. Hermann Hesse las Kafkas »magische Erzählungen« seit 1917. Im Januar 1924 bezeichnete er den »Deutsch-Böhmen« als einen »stillen, vom Publikum vollkommen unbeachteten Meister«, der besser Deutsch könne »als dreißig andere Dichter zusammen«.

Der Ruhm kam erst, als Kafka fast drei Jahrzehnte tot war. Er kam nun mit Wucht. Max Brod, der Kafkas Anweisung, seinen literarischen Nachlass zu vernichten, nicht befolgte, edierte, nicht immer zuverlässig, bald nach dem Zweiten Weltkrieg die »Gesammelten Werke«, und er schrieb eine Biografie, die lange das Bild des Erzählers dominierte und als das »authentische Lebenszeugnis« galt. Für Brod war Kafka, wie er in seinem Tagebuch festhielt, »der größte Dichter unserer Zeit«. Er sprach von ihm nur in Superlativen. In jenen fünfziger Jahren geschah's, dass der Verfasser des »Proceß« zu einem »sehr zeitgemäßen Autor« wurde, »praktikabel für allerlei mystisches Gesülze«, das in ihm nun Göttliches sah, »für Vereinnahmungen als Heiliger oder Prophet«. Klaus Wagenbach, damals Lehrling im S. Fischer Verlag, hat selber erlebt, wie die Werbeabteilung das letzte Passfoto Kafkas, die Ansicht eines kranken Menschen, »so zurechtspritzte, daß den Betrachter die glühenden Augen eines Propheten anstarrten«. Er spricht im Rückblick von »rauchfreier Realitätsverbrennung« durch die westdeutsche Germanistik, die sich weder für den Autor noch für die Zeit interessierte, die nicht nach den Umständen fragte, die einem Werk eingegraben waren, die vielmehr ausschließlich auf den Text fixiert war. Nebenbei: Zu den Ergebnissen dieser Heiligsprechung gehörte, dass der Name des Autors für ein Wort herhalten musste, das seitdem die Undurchschaubarkeit, das Unerklärliche der Welt suggeriert: »kafkaesk«.

Die Person, verklärt, geheimnisvoll und konturlos, kam erst später zum Vorschein, und Klaus Wagenbach hatte keinen geringen Anteil daran. Unzufrieden mit den ins Uferlose wachsenden Werkinterpretationen, die sich im Spekulativen verirrten, erpicht darauf, die Lebensumstände des Dichters zu erhellen, fing er damals schon an, Fotos und Zeugnisse jeder Art zu sammeln. Und blieb dabei, streifte durch Prag, reiste hierhin und dorthin, fotografierte, suchte nach Überlebenden der Familie, suchte Bilder der Freunde und Bekannten, der Häuser, in denen Kafka gewohnt hat, trug im Lauf der Zeit die größte Porträtsammlung zusammen, die es irgendwo gibt, und als die Kollektion viele Kästen und Tüten füllte, stellte er seine Funde 1983 zum ersten Mal in einem Bildband vor. Er liegt nun, zum 125. Geburtstag Kafkas am 3. Juli, in einer Neuausgabe vor, erweitert um 103 Abbildungen.

Das Buch, berühmt schon lange, hat sich jetzt starker Konkurrenz zu erwehren, denn zum Kafka-Jubiläum meldet sich ein zweiter Sammler zu Wort, Hartmut Binder, Experte und glühender Liebhaber auch er, ein Mann, der mit maßgeblichen Editionen aus der Kafka-Literatur gar nicht wegzudenken ist, dazu Herausgeber eines legendären (vergriffenen) Kafka-Handbuchs und Textautor von drei großen Bildbänden. Die Krönung all seiner Bemühungen ist sein neues Buch, der bei Rowohlt erschienene Band »Kafkas Welt«, eine schwere, umfassende, minutiöse Lebenschronik, ein Werk, das durch die schier überwältigende Bilderfülle besticht.

Kafkas Welt: Hier ist sie in allen Einzelheiten so reichhaltig dokumentiert, wie wir's noch nicht hatten. Man sieht das alte, dunkle Prag, die Wege, die der Versicherungsangestellte nahm, um ins Büro zu kommen, die Wohnungen, in denen Kafka lebte, die Arbeitsplätze, die Hotels und Sanatorien, die Sehenswürdigkeiten, die auf Reisen besucht wurden, Familie, Verwandte, Freunde. Man sieht den jungen Mann, schmal, elegant, schlaksig, eine attraktive Erscheinung, die bezaubern konnte und Eindruck machte, einen, der schwamm, gern unterwegs war, sich für Fußball, fürs Kino, fürs Motorrad und Radfahren begeisterte. Noch vor 50 Jahren wusste man ja nicht so recht, wie man ihn sich vorzustellen hatte. Die Kafka-Deuter hatten ihn in beinahe religiöser Verzückung zu einer Person stilisiert, die zum simplen Alltag nicht passte. Bei Binder dagegen ist viel Alltag zu besichtigen, viel Beiläufiges auch. Das reicht von den Bordellbesuchen über ein Mittagessen im Mai 1916 bis hin zu den Leuten am äußersten Wegrand, den Ärzten etwa, mit denen er's in den Sanatorien zu tun hatte. Binder klammert nichts aus. Auch das Profane hat bei ihm Existenzrecht. Das muss man, wenn man Kafka kennenlernen will, natürlich nicht alles wissen. Aber dieser Spürsinn, diese Besessenheit, die noch das bescheidenste, nebensächlichste Detail präsentiert (und jedes Bild mit einem Kommentar versieht), macht den Band zu einem Ereignis.

Binder und Wagenbach, voller Bewunderung für den einzigartigen Autor, sind für die Kafka-Forschung ein Segen. Und Reiner Stach, genauso enthusiastisch, ist es auch. Er hat bei S. Fischer gerade den zweiten Band seiner großen, auf drei Bände veranschlagten Biografie veröffentlicht, ein erstaunliches Werk, wie man jetzt schon sehen kann, eins von epischer Dimension, so hinreißend, so elegant wie keine Lebensbeschreibung Kafkas bisher. Erörtert werden die »Jahre der Erkenntnis« von 1916 bis zum Tod 1924, brüchige Zeiten, in denen sich die Welt grundlegend veränderte. Alles begann damit, dass Kafka in den Krieg wollte, unbedingt. Ausgerechnet er, dem es selbst in der elterlichen Wohnung zu laut war und der sich zum Schutz Wachs in die Ohren stopfte, der sonst vor Entschlüssen immer zurückschreckte, brannte darauf, den Soldatenrock anziehen zu dürfen. Felice Bauer, die Verlobte, konnte es kaum glauben. Niemand aus seiner Umgebung, obwohl patriotisch gesinnt wie alle deutschen Juden, verstand, was in ihn gefahren war. Wieder eine Flucht, wieder ein Versuch, sein bisheriges Leben hinter sich zu lassen. Was alle nicht schafften, die es gut mit ihm meinten, die ihn vor Verletzung und Tod zu bewahren suchten, schaffte nach der Musterung die Arbeiter-Unfallversicherung. Sie beantragte, einen ihrer fähigsten Leute vom Militärdienst zurückzustellen, und sie hatte damit Erfolg.

Stach, ein Autor, der die Biografie als eigenständige literarische Kunstform sieht, bringt auch diesmal das Kunststück fertig, wissenschaftlichen Anspruch und erzählerischen Gestus mühelos zu vereinen. Sein Buch, ein Leseerlebnis von der ersten bis zur letzten Seite, hat die Kraft eines großartigen Romans. Mitreißender kann man ein Leben wie dieses mit all der Rätselhaftigkeit, die immer noch bleibt, der Scheu, der Angst, dem Aufruhr im Innern, dem ständigen Zögern und Zurückweichen und den Nächten überm Schreibpapier kaum schildern. Glänzend, mit welcher Intensität Stach Kafkas Beziehung zu Julie Wohryzek, zu Milena Jesenská und zur Berlinerin Dora Diamant behandelt. Dazwischen immer wieder die Geschichte der Krankheit, die Kuraufenthalte, die verzweifelten Kämpfe gegen den Gewichtsverlust, die Hoffnungen, mit denen Kafka die Sanatorien in Meran und Matliary verließ, das Ringen ums Werk. Als er im September 1923 nach Berlin kam (dieses Kapitel beschreibt auch Hans-Gerd Koch, der Herausgeber der Kritischen Ausgabe bei S. Fischer, in einer schönen und konzentrierten Studie), wog er nur noch knappe 55 Kilo. Dann, Anfang 1924, ein letzter Genesungsversuch im »bösen bedrückenden« Lungensanatorium Wienerwald, abgebrochen nach wenigen Tagen. Man konnte ihm nicht mehr helfen. »Kehlkopftuberkulose festgestellt«, notierte Max Brod entsetzt. »Fürchterlichster Unglückstag.« Am 3. Juni 1924 war Kafka tot.

Die letzten zweieinhalb Seiten seines Buches nutzt Reiner Stach, um ans Schicksal derer zu erinnern, die in Kafkas Nähe lebten. Die drei Schwestern endeten in den Gaskammern der Nazis, Julie Wohryzek starb in Auschwitz, Milena Jesenská, verheiratete Pollak, in Ravensbrück. Ein Onkel brachte sich vor der drohenden Deportation um, Ernst Weiß, der Freund, erhängte sich beim Einmarsch der deutschen Truppen in einem Pariser Hotelzimmer, ein anderer Freund, Jizchak Löwy, kam im Lager Treblinka ums Leben. Felice Bauer, mit der er zweimal verlobt war, konnte sich in die USA retten, Dora Diamant in die Sowjetunion und dann nach London. Und auch Kafkas prominente Prager Schriftstellerkollegen, ob Albert Ehrenstein, Kisch, Weiskopf oder Werfel, überlebten den Naziterror nur, weil ihnen rechtzeitig die Flucht gelang.

Klaus Wagenbach: Franz Kafka. Bilder aus seinem Leben. Überarbeitete und erweiterte Ausgabe. 253 S., geb., 39 EUR.

Hans-Gerd Koch: Kafka in Berlin. 140 S., geb., 15,90 EUR.

Beide Verlag Klaus Wagenbach.

Hartmut Binder: Kafkas Welt. Eine Lebenschronik in Bildern. Rowohlt Verlag. 688 S., geb. im Schuber, 68 EUR.

Reiner Stach: Kafka. Die Jahre der Erkenntnis. S. Fischer Verlag. 726 S., geb., 29,90 EUR.