Konsumparadies unterm Fuji-san

Japan zeigt, wie Kapitalismus noch funktionieren kann: Indem er sich möglichst vieler sozialistischer Elemente bedient

  • Jürgen Elsässer
  • Lesedauer: 6 Min.
In der globalisierten Wirtschaft hat der Nationalstaat keine Steuerungsmöglichkeiten mehr, behaupten Neoliberale und Linksradikale unisono. Nippon beweist das Gegenteil.

Japan ist ein kapitalistisches Schlaraffia – jedenfalls auf den ersten Blick. Wo man hinkommt, ist man Kunde und damit König. Geht man zur Bank und will sein schmales Euro-Budget in japanische Yen tauschen, wird man gleich von drei zauberhaften Damen in Empfang genommen und zum Schalter begleitet. Sie, deren einzige Aufgabe das Lächeln und Zwitschern ist, wären in der Hartz-IV-Republik mit Sicherheit schon längst als Kostenfaktor wegrationalisiert worden.

Bald hat man auch die Zustände in deutschen Supermärkten vergessen, wo meist eine einzige Verkäuferin zwischen Wurst-, Fleisch- und Käsetheke hin- und herhetzen muss und trotzdem nicht nachkommt. In den nipponesischen Konsumpalästen wird man sogar als bloßer Flaneur hofiert, und wo 20 verschiedene Seetierchen zur Verkostung stehen, tänzeln in der Regel zehn Verkäuferinnen drumherum – ein besseres Verhältnis als zwischen Babys und Betreuerinnen in Kreuzberger Krabbelgruppen. Und natürlich muss der Autofahrer nicht selbst Benzin zapfen – wo kommen wir denn da hin! Ein Tankwart führt die Spritpistole ein, der zweite schamponiert die Windschutzscheibe und der dritte, so darf man aus dem Wageninnern vermuten, poliert die Reifen. Man beachte: Diese drei von der Tankstelle haben reguläre, versicherungspflichtige Arbeitsplätze – während sich an Berliner Kreuzungen polnische Elendsjobber für ein paar Cent um die Sauberkeit deutscher Pkw bemühen müssen. In Japan macht Kapitalismus Spaß, muss man auch als dessen Kritiker neidvoll anerkennen. Warum klappt das bei uns nicht?

Der verhinderte Crash

Während der gemeine Tourist die Ursache in der asiatischen Freundlichkeit und Dienstbeflissenheit vermutet, die den Berlinern ja tatsächlich fehlt, weiß man es als Marxist besser: It's the economy, stupid! Im Reich der aufgehenden Sonne wird noch Geld für die Erhaltung oder sogar Schaffung von Arbeitsplätzen ausgegeben, und das schlägt sich in der Qualität der Produkte und der Dienstleistungen nieder. Dieses Geld aber ist gepumpt, ist die reine Staatsverschuldung. Kurz: Was Kanzlerin Merkel und Finanzminister Steinbrück, assistiert von einigen Neunmalklugen in der Linkspartei, uns als Gift hinstellen wollen, wirkt in Japan als Medizin.

Staatliche Investitionsspritzen nach dem Vorbild des britischen Nationalökonomen John Maynard Keynes waren das Einzige, was Japans Absturz Anfang der neunziger Jahre verhinderte. Die Situation war tatsächlich dramatisch gewesen: Als die Tokioter Börse nach den Neujahrsfeiertagen am 2. Januar 1990 wieder ihre Pforten öffnete, begann der Absturz des Nikkei. In den folgenden acht Monaten verlor der Aktienindex über 60 Prozent des Höchstwertes von 39 985 Punkten, den er im Dezember 1989 erzielt hatte, umgerechnet 2,6 Billionen US-Dollar oder das 2,7-Fache der damaligen jährlichen Wirtschaftsleistung des Landes. »Historisch gesehen ist eine Volkswirtschaft, die einen solchen Rückschlag zu verzeichnen hatte, immer in eine jahrelange tiefe Depression geschlittert«, resümiert Karl Pilny in seinem Buch Das asiatische Jahrhundert.

Japan schlitterte zwar in eine Stagnation, aber nicht in eine Depression. Der Absturz wurde vermieden. Die Wirtschaft wuchs in den neunziger Jahren zwar kaum weiter, und statt Inflation wurde bisweilen Deflation gemessen – Preisrückgang. Aber trotz dieser ungünstigen Rahmenbedingungen stieg die Arbeitslosigkeit nur auf wenig über fünf Prozent, und die Löhne wurden nicht gekürzt. Erreicht wurde dies, indem der Staat an Stelle der notleidenden Nikkei-Unternehmen zur Lokomotive der Wirtschaft wurde: Zwischen Herbst 1992 und Herbst 1995 wurde umgerechnet mehr als eine halbe Billion Euro in die Wirtschaft gepumpt. Man vergleiche dies mit den kümmerlichen 25 Milliarden Euro, die das Investitionsprogramm der Merkel-Regierung in der gesamten Legislaturperiode 2005 bis 2009 ausmachen! Die japanische Staatsverschuldung stieg von 1990 bis 2006 von null auf – die Angaben sind ebenso unterschiedlich wie die Maßstäbe – 150 bis 180 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung. Damit beträgt sie fast das Zweieinhalb- bis Dreifache der in den Maastricht-Kriterien festgelegten Obergrenze für die Euro-Zone. Umgerechnet 100 Milliarden Euro hat die öffentliche Hand in den neunziger Jahren allein in den Bau von Straßen und Wolkenkratzern investiert – ein Drittel mehr als in den USA, obwohl das Inselreich nur die Hälfte der Bevölkerung und vier Prozent der Fläche der Vereinigten Staaten hat. Das ist auch der Grund, warum die Silhouette von Tokio nicht so einprägsam ist wie die von London, Berlin oder New York: Ständig schießen neue Mega-Hochhäuser in die Höhe, das Tempo der Erneuerung ist schwindelerregend.

Der Staat dirigiert

Warum ist der Staat nicht unter den Schulden, das Bankensystem nicht unter den faulen Krediten in die Knie gegangen? Zwei Gründe sind ausschlaggebend. Zum einen hat sich die Regierung das Geld für die Investitionsprogramme von den eigenen Bürgern geliehen. Die Japaner waren in den neunziger Jahren Weltmeister im Sparen, durchschnittlich legten sie 16 Prozent (1990) ihrer Einkünfte auf die hohe Kante – das konnte die Regierung beleihen. Der japanische Staat steht also hauptsächlich bei seinen eigenen Bürgern in der Kreide – ganz anders als die USA, die in der Klemme einer phänomenalen Auslandsverschuldung sitzen.

Zum anderen glich das japanische Wirtschaftssystem bei Einbruch der Krise eher einem Staatskapitalismus als einem Privatkapitalismus. In fast jedem anderen Land wären Aktien, die wertmäßig so abgestürzt sind wie die japanischen 1990, von in- und ausländischen Konkurrenten aufgekauft und die entsprechenden Unternehmen in der Folge gewinnbringend ausgeschlachtet worden. In Japan war das nicht möglich, weil sich die großen Konzerngruppen unter Führung der Regierung gegenseitig stützten. »Rund 70 Prozent der in Japan emittierten Aktien befinden sich im Besitz von Aktiengesellschaften, die Mitglieder der Gruppen sind. Das bedeutet, dass dieser Anteil an Besitztiteln nicht in den Handel kommt, dass sich die meisten großen Aktiengesellschaften indirekt selbst besitzen oder zumindest kontrollieren«, heißt es im Länderbericht Japan der Bundeszentrale für politische Bildung. Und weiter: »In entscheidenden Fragen von nationaler Bedeutung, etwa bei der Rohstoffsicherung des Landes, arbeiten die (Konzern-)Gruppen zusammen.« Es habe sich »eine gegen (vorwiegend ausländische) Dritte gerichtete Spielart des Dirigismus« herausgebildet.

Innerhalb der Unternehmensgruppe herrscht keine Konkurrenz, sondern Planwirtschaft: Anders als die deutschen Großkonzerne spielen die japanischen Autobauer ihre Zulieferer und die Einzelhändler nicht gegeneinander aus, sondern sind mit ihnen durch fast unkündbare Verträge verbunden. Auch den Erpressereien der Banken ist eine Grenze gesetzt: Die Unternehmensgruppen arbeiten mit Hausbanken, sogenannten Nukleus-Banken, zusammen, die eine Art Fürsorgepflicht haben. »Im Notfall muss die Hausbank weitgehend für die Verbindlichkeiten ihrer Schwesterunternehmung in der Gruppe geradestehen. Dafür gibt es keinen gesetzlichen Zwang, vielmehr erfolgt die Rettungsaktion aufgrund ungeschriebener Gesetze der Japan-AG.«

Das Problem dieses Staatskapitalismus besteht darin, dass er ein Staatsmonopolistischer Kapitalismus ist: Nicht das Parlament bestimmte, welche Industrien zu fördern und wofür die Milliarden aus dem Staatshaushalt zu investieren seien. Vielmehr entscheiden undurchsichtige und unkontrollierbare Kreise nach ihrem eigenen Gusto: Das Geld wurde zumeist in unsinnige Bauvorhaben gesteckt, die von der japanischen Mafia, der Yakuza, kontrolliert wurden.

Aber das demokratische Defizit spricht nicht gegen dieses Modell an sich, sondern nur für seine Verbesserung: Der Gangsterkeynesianismus muss durch einen Volkskeynesianismus ersetzt werden. Wie das in Deutschland gehen könnte, wird eine Expertenkommission unter Leitung von Norbert Blüm und Oskar Lafontaine sicher herausfinden können.

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