Vom Kinde verweht

Zum 60. Geburtstag des Regisseurs Luc Bondy

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.

Ein Mensch definiert sich nicht über das, was er nicht ist. Und doch reizt, um Luc Bondy zu bejahen, zunächst die Negation: kein Aufklärer, kein Zertrümmerer, kein Klartextler, kein Wilder, kein Wütiger, kein Robuster, kein Bearbeiter, kein Wuchtender, kein Tiefdunkler, kein Schleierwegreißer, kein Erzieher, kein Moralist.

Botho Strauß beschrieb ihn als einen »Sensibilisten« von der »Nacht- und Traumseite dieses amusischen Achtundsechzigertums«, am westdeutschen Theater sei er ein besonders feinfühliger Vertreter gewesen – und zwar der »letzten rein westlichen Kunstströmung vor dem Barbareneinfall des Zynismus und des nostalgischen Marxismus aus Real-Ost«. Ein Regisseur ohne Gesinnungskomfort, »niemals hätte er Trotzki poetisieren oder einen jakobinisch verbrämten Hölderlin zu seinem Leitstern erwählen können«. Die Ideologen auf dem Theater verkrüppeln die Worte so, dass sie von den Schauspielern wie von Demonstranten getragen werden müssen, Künstler wie Bondy umpflegen Texte, dass Schauspieler noch im Schweigen eine ganze poetische Welt tragen. Der schwatzende Regisseur vertraut sowohl sich selbst als auch dem Wort, der denkende Regisseur zweifelt an beidem.

Man hat ihn den Mozart des Schauspieltheaters genannt, einen Psychologen, einen Verfeinerer. Es muss eben immer den Punkt geben, auf den die Dinge, auch die Menschen zu bringen sind – Journalisten sind Erfinder in einer Welt jener Sekundär-Verwertung, die das Gegenteil wahrer Erfindung ist. So entsteht jenes Leiden, das Einordnung, Interpretation heißt. Der Kritiker leidet, wenn er nicht einordnen, interpretieren kann. Bondys Theater würde leiden, wenn es prononciert einordnen, interpretieren müsste. Er ist wahrscheinlich der Vorsichtigste unter den Regisseuren seiner Generation, und vielleicht plagt diesen kleinen, schmächtigen, wirbligen Künstler, der sich selber als Vermittler bezeichnet, »lediglich« eine hochnervöse Neugier auf die jeweils andere Seite einer Erscheinung. Eine Art Neugier auf die entgegengesetzte Seite der Erde – auf das Leben dort in einer Sonne, die unsere Nacht zur Voraussetzung hat. Was steckt in jedem beiläufigen Aufeinandertreffen, Aneinandervorbeigehen von Menschen? Wie geschieht Zeit in einer Beziehung, in einem Gespräch?

Das alles kann Theater nicht beantworten, deshalb macht Bondy genau darüber Theater. Skizzen, Berührungen, Entfernungen, Atmosphäre möchte er finden für das höhere Nicht-Verstehen. Die Welt wird Bild und dann vom Kinde verweht.

Seit 1969 arbeitet er in Deutschland, Edward Bonds »Die See« am Münchner Residenztheater wurde sein Durchbruch, er prägte Peter Steins Berliner Schaubühne mit, übernahm nach dessen Rücktritt Mitte der achtziger Jahre die Leitung (mit dem Dramaturgen Dieter Sturm). Diese Etappe hatte keine Dauer, Bondy überstand eine schwere Krebserkrankung, er inszenierte in Frankreich, in der Schweiz, seit 2002 ist er alleiniger Intendant der Wiener Festwochen. Auch schreibt er Erzählungen und Feuilletons, hat Spielfilme gedreht und ließ sich von Georges Banu für ein kluges, freimütiges Gesprächsbuch interviewen, dessen Titel genau sein Theater erzählt: »Das Fest des Augenblicks.«

Er überwand zudem eine Kokainsucht, ist zuckerkrank – und doch erscheint in den Theaterarbeiten Bondys das Augenblicksfestliche nicht als Ausdruck einer plötzlich aufflammenden Not, einer heftigen Besinnung unterm Krankheitsschatten des Todes. Nein, das Hingebungsvolle im Momentanen kommt aus den Urgründen einer liebenden Natur, die zu ihrer Erfüllung nichts Fernes, Größeres, Aufschiebbares benötigt. In dem Punkt ist Bondy, der großartige Kompositeur des Dazwischen, ein klarer Realist: Er weiß, dass im Kalender kein Morgen eingetragen ist.

Der Schauspiel -und Opernregisseur wurde 1948 in Zürich geboren, er ist der Sohn des Publizisten François Bondy. Dessen Vater kannte Kafka. Die Großvaterhand, die dem kleinen Luc über den Kopf strich, hatte also auch Kafka berührt. Das sagt gar nichts, kann einen aber in bestimmten Momenten trotzdem sprachlos machen.

Auch das beschrieb Botho Strauß: das Behütete des ihm guten Freundes, der so gar nichts von den aggressiven Abnabelungsreflexen der bundesdeutschen »Väterhasser« besaß. Man kann sich Bondy nicht vorstellen ohne die Innigkeit, mit der er seinem Vater geistig nahe war und blieb.

Wenn er von denen beschrieben wird, die ihn umgeben, dann scheint er, drahtlos zwar, doch völlig verdrahtet mit aller Welt zu sein, ein Sklave unterm König Telefon, der uns über Oberflächen flutschen lässt, aber gleichzeitig ist Bondy nie ohne Buch anzutreffen; das Wirkliche der Körper ist bei ihm nicht zu denken, nicht zu fühlen ohne die Wirklichkeit des Geistes, und alles bestürmt diesen Bondy so, dass man ihn ständig in einem Vibrieren wähnt, das ist eine Konsequenz ungeschützter Wahrnehmungssinne. Als hätten diese Sinne (es kann nicht nur einer sein) kein Sieb, keine Membran, keine Grenzkontrolle.

Er wirbelt also, er ist ganz und gern Chaos. Die Inszenierungen Bondy sind dann so überhaupt nicht chaotisch, sie sind eher wie ein lichtdiffuser Seelenboden, auf den alles Gewichtige gesunken ist, und das nun bei leichter Strömung Zentimeterchen über dem Sande treibt, schwebt.

So hat er Weltdramatik auf die Bühne gebracht, vor allem Marivaux, Ibsen (in Lausanne den »Borkman« mit Michel Piccoli). Ich sah in Wien seinen Horváth (»Figaro lässt sich scheiden«, mit Gert Voss, Anne Tismer), und ich sah Menschen ihre eigene Angst in fremden Ängsten verstecken. Ich sah seinen »Schlaf« von Jon Fosse (mit Martin Schwab, Edith Clever), und ich sah, dass alle Kinder auch nur künftige Gräber sind. Ich sah seine Tschechow-»Möwe«, mit Anna Wokalek, August Diehl, Gert Voss, Jutta Lampe, und ich sah verzweifelt Heitere, die im sinnlosen Sinn leben, und andere, die sich heiter verzweifelt durch eine sinnvolle Sinnlosigkeit schlagen. Ich sah »Lear« mit Gert Voss und Birgit Minichmayr, und ich sah der Weisheit wirklich letzten Schluss: der traurige Rest Leben, wenn man sich nichts mehr vormacht und nichts mehr vormachen lässt.

Immer wieder hat Bondy Stücke von Botho Strauß inszeniert, an der Berliner Schaubühne, in den letzten Jahren auch am Berliner Ensemble von Claus Peymann. Er ist Strauß' wesentlicher theatralischer Verwirklicher. Dessen Spiele besitzen jenes Flirren zwischen allen Zeiten, das den Menschen so botschaftend wie bodenlos hält.

Kürzlich liefen Genets »Zofen« bei den Wiener Festwochen, Bondys Koproduktion mit der Volksbühne Frank Castorfs. Seit Jahren verbindet beide (trotz? wegen! ihrer antipodisch ausgerichteten Kunst) eine Freundschaft, und wesentliche Castorf-Inszenierungen (die russischen Roman-Adaptionen) sind in Wien uraufgeführt worden. Im September hat nun Bondy seine Berliner »Zofen«-Premiere. Der Feine auf rauer Flur. Getrieben von der schönen Neugier auf die andere Seite der Erde

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