Gefühlter Trend ersetzt keine Politik

Berliner Mieterverein widerlegt These von der Rückkehr in die Innenstadt

  • Karin Nölte
  • Lesedauer: 3 Min.
»Suburbaniten von morgen« am Boxhagener Platz.
»Suburbaniten von morgen« am Boxhagener Platz.

Die »Renaissance der Innenstädte« wird jüngst gern beschworen – von interessierten Investoren und hoffenden Politikern. Dass Menschen in beachtenswerten Zahlen in die Innenstadt zurückkehren, ist indes nur ein gefühlter Trend. Der Berliner Mieterverein (BMV) ließ das Institut für Soziale Stadtentwicklung Potsdam (IFSS) analysieren und kam zu dem Schluss: Der angeblich neue Trend halte objektiven Daten nicht Stand, sei kein Ist-Zustand, sondern im besten Falle ein Ziel, erklärte gestern Franz Georg Rips, Vorsitzender des BMV.

»Der Prozess der Suburbanisierung hält an«, so die Erkenntnis des IFSS. Schon von 1994 bis 2004 hatte Berlin 197 000 Menschen an das Umland verloren. Das dann bis 2006 verzeichnete Bevölkerungswachstum resultierte allein aus dem Wanderungsplus von 62 500 Menschen aus dem Ausland und 22 500 aus den alten Bundesländern. Aber der Wegzug von Familien vor allem ins nahe Brandenburgische setzt sich fort.

Gewinner ist Berlin hauptsächlich durch die jungen Erwachsenen bis 30 Jahre. Das sei ein »Erbe der DDR«, sagte Arnim Hentschel, Direktor des IFSS. Die starken Geburtenjahrgänge ab Mitte der 70er Jahre – »Suburbaniten von morgen« – ziehe es heute in die Hauptstadt. Wie auch junge Ausländer, denn im europäischen Metropolenvergleich seien die Mieten in Berlin deutlich günstiger.

Selbst Szenekieze wie Samariterviertel oder Boxhagener Platz in Friedrichshain, die medial wirksam mit Lebendigkeit und hohen Geburtenraten werben, verlieren mehr junge Familien, als sie gewinnen können. Auch wenn im Raum innerhalb des S-Bahnrings seit dem Jahr 2000 fast 39 000 Menschen mehr wohnen, sei dies kein Indiz für eine Renaissance der Innenstadt, stellte das IFSS fest. Zwar hätten Prenzlauer Berg, Friedrichshain und das Zentrum von Mitte ein Bevölkerungsplus zu verzeichnen, doch dies sei den jungen Erwachsenen aus dem Ausland, den alten Bundesländern und dem ferneren Brandenburg zu verdanken. Auch der Randbezirk Treptow-Köpenick habe dazugewonnen. Und den gefühlten Trend widerlege zudem eine Analyse der innerstädtischen Umzüge. Da stünden Mitte, Friedrichshain, Kreuzberg, Tempelhof, Schöneberg und Neukölln über Jahre auf der Verliererseite, dagegen am Rand Treptow, Köpenick, Spandau, Reinickendorf, Pankow, Steglitz und Zehlendorf auf der Gewinnerseite.

Das Ziel »Zurück in die Innenstadt« sei kein Selbstläufer, warnt der Mieterverein. Immer mehr bestimmten Großinvestoren statt der gewählten Politiker die Stadtentwicklung. Doch Leuchtturmprojekte mit Privatstraßen und Doorman dienten nicht der Normalbevölkerung, sie förderten vielmehr die soziale Segregation. »Die Stadt muss für alle da sein«, sagte Hartmann Vetter, Hauptgeschäftsführer des BMV. Die Beschwörung eines Trends ersetze nicht Politik.

Der Mieterverein fordert integrierte Konzepte für bezahlbares Wohnen, das familiengerecht, barrierefrei, attraktiv, energetisch vernünftig ist. Instrumente der Programme Soziale Stadt, des Stadtumbaus Ost und West sowie der Städtebauförderung sollten ausgebaut und kleinteilig verzahnt werden. Der Senat wird aufgefordert, Defizite abzubauen, Aktivitäten in Quartiersmanagement und Stadtteilentwicklung zu verstärken und »insgesamt noch deutlich aktiver als bisher zu sein«.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal