nd-aktuell.de / 22.07.2008 / Kommentare / Seite 8

Wenn Politik auf Wirklichkeit trifft

Ernst Röhl
Flattersatz: Wenn Politik auf Wirklichkeit trifft

Durch immer mehr Seifenopern und TV-Labershows und immer mehr News im Graubereich der Wahrheit sind wir nicht nur immer umfassender informiert, sondern auch immer falscher unterrichtet. Und durch immer mehr Umfragen!

Einerseits beherrschen 10 Prozent der Schüler den Klimmzug – 2 Prozent weniger als im Vorjahr; andererseits beherrschen 90 Prozent den Lungenzug – 2 Prozent mehr. Demnach reicht die Ausstattung der Schulen mit Turngeräten aus, bloß bei den Zigaretten wird’s eng. Katholiken haben mehr Sex als Protestanten; das ergab eine Umfrage unter 4000 Pfarrhaushälterinnen. Wie das Statistische Bundesamt mitteilt, sind 58 Prozent der deutschen Männer und 53 Prozent der deutschen Frauen übergewichtig – macht 111 Prozent.

Auf den Wunschzetteln der Deutschen steht Gesundheit mit 74 Prozent obenan. Es folgen der unerwartete Lottogewinn mit 64 Prozent und der Fernsehabend im Kreis der Familie mit 54 Prozent, auf Platz 4 der Weltfrieden mit 44 Prozent. 33 Prozent der Deutschen wollen lieber reich als glücklich sein, 33 Prozent lieber glücklich als reich, 33 Prozent sowohl als auch, 1 Prozent: weiß nicht.

Und die Kanzlerin wird immer beliebter. Angela Merkel erzielt Schwindel erregende Umfragewerte. Wäre am nächsten Sonntag Direktwahl zum Amt des Bundeskanzlers, sie landete einen Kantersieg, dass die Schwarte kracht, und dabei spielt überhaupt keine Rolle, welche Pappnase gegen sie antritt. Dies ist das Ergebnis einer Forsa-Umfrage. Die Frau bricht alle Rekorde. 72 Prozent halten sie für »sympathisch«, 82 Prozent für »kompetent«. 34 Prozent trauen ihr »die Lösung der Probleme« zu, und obwohl sie doch nur eine schwache, kleine Frau ist, halten 76 Prozent der Deutschen sie für »stark«. Ob es Liebe ist? Unaufhaltsam dringt sie vor in die geheiligten Dalai-Lama-Gefilde, in denen bayreuthmäßig wallende Weihrauchschwaden wabern – ein Bereich, der Politikern zu Lebzeiten normalerweise verschlossen bleibt, es sei denn, einer rüttelt am Zaun und kräht: »Ich will hier rein!«

69 Prozent finden sie »glaubwürdig«. Das soll auch so bleiben, ganz egal, was sie sagt, wenn der Tag lang ist. Dafür sorgt schon die »Bild am Sonntag«. Neulich gewährte Frau Dr. Merkel ihrer BamS ein Interview. Darin schmetterte sie sozialromantische Illusionen der deutschen Hartzis und des EU-Kommissionspräsidenten Barroso schwungvoll ab, vor allem den Wunsch nach bezahlbaren Strompreisen. Über Steuergeschenke für Stromkonzerne lässt sie durchaus mit sich reden, doch wenn es um diese lausigen Sozialtarife geht, ist sie auf dem einen Ohr taub und auf dem anderen blind.

Ihr Finanzminister, so Angela Merkel halbinformiert, aber meinungsstark, bezahle Hartz IV-Betroffenen ja schon die Wohnung, womit »alle Heizkosten und Stromrechnungen voll ersetzt« wären. Irren ist menschlich … Oder wie Freund Dabbeljuh sagt: Nobody is perfect. Reaktionsschnell ermutigten Rädelsführer des Erwerbslosen-Forums Deutschland alle Arbeitslosengeld II-Empfänger, nun aber sofort Anträge auf volle Übernahme der Stromkosten zu stellen. »Wir wissen nicht«, kommentierten sie, »ob es ihre Unkenntnis der Zusammensetzung des Hartz IV-Regelsatzes ist oder ob sie uns bewusst ein falsches Bild vorgaukelt.«

Tja, das weiß man eben nicht mehr so genau, seit sie die »Sprache der neuen Ehrlichkeit« spricht. In ihre Antwort, erklärt Regierungssprecher Steg, habe sich »eine gewisse Unschärfe der Formulierung« eingeschlichen, zu deutsch: Das Gegenteil ist richtig. Die Bundesregierung lehnt Sozialtarife für Arme weiterhin zuverlässig ab, da können die demokratischen Strompreise ruhig weiter steigen, als wären sie auf der Flucht.

Da auch mir die Glaubwürdigkeit der Kanzlerin am Herzen liegt, unterbreite ich ihr auf diesem Weg einen Vorschlag, wie sie die Scharte schleunigst auswetzen und sogar noch punkten könnte: das Arbeitslosengeld II einfach an die Benzinpreisentwicklung ankoppeln!