Die Urknall-Maschine

Das bisher größte und teuerste Laborgerät der Physiker, der Teilchenbeschleuniger LHC, geht bei Genf in Betrieb

  • Hans Frey
  • Lesedauer: 5 Min.

Am kommenden Mittwoch werden einige Milliarden Protonen im Large Hadron Collider (LHC) des Europäischen Kernforschungszentrums (CERN) ihre 27 Kilometer langen Einführungsrunden drehen, eingeschossen vom benachbarten, kleineren Super Proton Synchrotron (SPS). Zum ersten Mal werden sie den gesamten Ringtunnel des LHC in zwei Vakuumröhren durchlaufen, im Uhrzeigersinn und entgegengesetzt. Noch werden sie dort nicht beschleunigt, noch wird es keine Kollisionen zwischen gegenläufigen Teilchen geben, noch wird es sich nur um je ein umlaufendes Teilchenpaket handeln, nicht um die volle Kapazität von je dreitausend Paketen. Und doch – so Robert Aymar, Generaldirektor des CERN – »wird es das Ende einer Ära sein – und der Beginn einer neuen Ära. Die lange Zeit für Bau und Inbetriebnahme des wichtigsten naturwissenschaftlichen Werkzeugs überhaupt wird abgeschlossen sein. Die Mühe, der Einsatz und die Zusammenarbeit tausender Ingenieure, Techniker und Physiker werden gewürdigt werden, indem wir zeigen, dass der erste Schritt zur tatsächlichen Anwendung getan ist.«

Die Wissenschaftler des CERN wollen große Fragen beantworten, die an den Kern des physikalischen Weltverständnisses rühren. Tatsächlich sind die bisher entwickelten Modelle über Entstehung und Entwicklung des Universums, über die gemeinsame Natur der vier Grundkräfte (Gravitation, schwache Kernkraft, Elektromagnetismus, starke Kernkraft) und über die Familie der Elementarteilchen (das sogenannte Standardmodell) an Grenzen gestoßen.

Astrophysiker machen aufregende Beobachtungen, seit das Hubble Space Telescope und modernste erdgebundene Großteleskope wie das VLT auf dem Cerro Paranal in Chile zur Verfügung stehen: Die Galaxien drehen sich zu schnell – schneller, als es das Gravitationsfeld der sichtbaren Materie (Sterne, Staub- und Gaswolken usw.) erlaubt. Was hält sie also zusammen? Ein analoges Problem gibt es bei der Geschwindigkeit, mit der sich Galaxien von uns fortbewegen. Derzeit muss man annehmen, dass es unsichtbare Materie- und Energieformen gibt, die für die zusätzliche Masse in den Galaxien und die beschleunigte Ausdehnung des Universums verantwortlich sind. Doch die Natur dieser Dunklen Materie bzw. Energie kennt man nicht.

Auch die Teilchenphysiker stehen vor Rätseln. Das Standardmodell, das Materie und Grundkräfte in drei Teilchenfamilien (den Quarks und den Leptonen als Bausteinen der Materie sowie den Bosonen als Überträger der Kräfte) vereint, ist zwar in deren Beschreibung höchst genau und vielfach bestätigt, doch worauf beruhen seine Parameter? Wie erklären sich die unterschiedlichen Teilchenmassen? Warum ist beim Urknall nicht genausoviel Antimaterie wie Materie entstanden? CERN-Generaldirektor Aymar sieht in diesen Fragen »eine große Herausforderung für uns und unser Verständnis des Universums. Wir sind zuversichtlich, dafür Antworten zu finden.«

Mit dem LHC wird der Versuch unternommen, das Verhalten des frühen Universums nachzustellen und zu beobachten. Man hofft, das Entstehen und Vergehen bisher nie gesehener Elementarteilchen nachzuweisen. Dazu muss man so viel Energie wie möglich auf engstem Raum konzentrieren. Im LHC laufen Protonen, d. h. einfach positiv geladene Wasserstoffionen, mit nahezu Lichtgeschwindigkeit auf einer Kreisbahn um und werden dabei von einem hochfrequenten elektromagnetischen Feld immer weiter beschleunigt. Auf ihrer Bahn gehalten werden sie von supraleitenden Magnetspulen, mit flüssigem Helium auf 1,9 Grad über dem absoluten Nullpunkt gekühlt, in denen Ströme von mehr als zehntausend Ampere fließen und die Magnetfelder von über 8 Tesla liefern, etwa die hunderttausendfache Stärke des Erdmagnetfeldes.

Zwei Vakuumröhren gibt es im LHC, für jede Laufrichtung der Protonenpakete eine, und vier Kreuzungspunkte, an denen die Protonen frontal aufeinanderstoßen. Dort setzen sie ihre Bewegungsenergie von bis zu 14 Milliarden Elektronenvolt (TeV) schlagartig frei. Das Gleiche soll auch mit Blei-Ionen passieren; stoßen sie aufeinander, ist die gesamte Kollisionsenergie noch hundertmal höher (bis 1150 TeV).

An den vier Kreuzungspunkten stehen die vier hausgroßen, tausende Tonnen schweren Detektoren, die Herzstücke der Experimente. ALICE wird Blei-Blei-Kollisionen beobachten – es entsteht das sogenannte Quark-Gluon-Plasma, eine heiße Suppe von Kernbestandteilen, wie sie kurz nach dem Urknall, vor der Bildung der ersten Protonen und Neutronen, das junge Universum ausfüllte. In ATLAS werden Protonenkollisionen stattfinden; aus der freigesetzten Bewegungsenergie werden – so ist die Hoffnung – sehr massereiche, neue Elementarteilchen entstehen, die das Standardmodell vervollständigen oder erweitern, darunter das Higgs-Boson oder die sogenannten supersymmetrischen Partner der bekannten Elementarteilchen. Möglicherweise wird man sogar Hinweise auf zusätzliche Raumdimensionen finden. Der Detektor CMS wird dieselben Fragen untersuchen, hat aber ein anderes Bauprinzip. LHCb wird das Verhalten bestimmter Quarks beobachten, um der Ursache des Ungleichgewichts zwischen Materie und Antimaterie auf die Spur zu kommen (wären die beiden Materiearten gleich häufig aus der anfänglichen heißen Phase des Universum hervorgegangen, hätten sie sich gegenseitig vollständig vernichtet). Zwei weitere, deutlich kleinere Detektoren stehen in Strahlnähe und werden Modelle über die Eigenschaften kosmischer Strahlung testen (LHCf) bzw. hochgenaue Messungen der Größe des Protons durchführen (TOTEM).

Von einem Werkzeug der europäischen Integration hat sich das CERN zu einem zentralen Ort der Naturwissenschaftler weiterentwickelt. Viele tausend Forscher von hunderten Instituten aus Europa, aber auch aus den USA, Japan, Israel und Indien sind an Bau und Betrieb des LHC und der Experimente beteiligt. Offenheit ist oberstes Prinzip; nicht nur alle Forschungsergebnisse sind frei zugänglich, das CERN ist auch Vorreiter bei der Entwicklung des freien weltweiten Datenverkehrs. Das World Wide Web geht auf Arbeiten von Tim Berners-Lee am CERN zurück. Heute wird das sogenannte Grid entwickelt, das die gemeinsame Nutzung von Computerressourcen ohne Rücksicht auf räumliche Entfernung ermöglicht. Für das CERN schon wegen der ungeheuren Datenmenge von 15 Millionen Gigabyte pro Jahr aus dem LHC eine Notwendigkeit. Zugleich ist diese globale Vernetzung von Hochleistungsrechnern eine zukunftsweisende Entwicklung für andere datenintensive Forschungsprojekte.

Nach dem Strahltest wird es noch einige Wochen dauern, bis die ersten Protonenkollisionen ausgelöst werden. Werner Riegler, Physiker am ALICE-Detektor: »Jetzt kommt die Phase, in der ich an Physikfragen tüfteln kann und auf die mich sehr freue. Die schwierige Phase des Baus des Experiments ist abgeschlossen, man sieht die Daten und kann sich wirklich mit Physik beschäftigen ...«

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