Sozialraub ist verfassungswidrig

Ein Diskussionsangebot angesichts der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich in Deutschland

  • Klaus Blessing
  • Lesedauer: 9 Min.
Eine aktuelle Studie des Instituts Arbeit und Qualifikation (IAQ) hat wieder einmal zum Rauschen im bundesdeutschen Blätterwald geführt. Die Schere zwischen niedrigen und hohen Löhnen klafft in Deutschland immer weiter auseinander, tönte es sogar in der bürgerlichen Presse. Als ob es für diese Erkenntnis der Studie bedurft hätte. Inzwischen ist das Rauschen verhallt und es wurde bis zum nächsten scheinheiligen Aufschrei zur Tagesordnung übergegangen. Der folgende Beitrag wirft Grundfragen der Sozialstaatlichkeit in der Bundesrepublik Deutschland auf und sei zur Lektüre auch jenen Politikern empfohlen, die am heutigen Sonnabend auf einer Festsitzung in Bonn die Arbeit des Parlamentarischen Rates vor 60 Jahren bejubeln.

Die staatstragenden Aussagen des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland lauten:

  • Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt (Art.1).
  • Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundessstaat (Art. 20).

Die sozialpolitische Entwicklung in der Bundesrepublik verstößt jedoch seit langem genau gegen diese verfassungsmäßig garantierten Grundsätze. Die Würde des Menschen wird verletzt, indem ihm millionenfach das Menschenrecht auf Arbeit vorenthalten wird.

Die regierungsamtliche Losung »Wachstum schafft Arbeit« und das Triumphgeschrei über den Abbau der Arbeitslosigkeit sind eine Irreführung der Öffentlichkeit. Das Arbeitsvolumen der gesamten Gesellschaft sinkt ständig. Ende 2007 lag es absolut um fünf Prozent unter dem Niveau von 1991, obwohl die wirtschaftliche Leistung im gleichen Zeitraum um über 20 Prozent gestiegen ist. Das ist Ausdruck steigender Produktivität. Verwerflich ist, dass das Gesellschaftssystem nicht in der Lage ist, diese Produktivitätssteigerung menschenwürdig umzusetzen.

Gefälschte Statistiken

Eine Verkürzung der Arbeitszeit auf 28 Stunden pro Woche, verbunden mit einem Bildungssystem, das allen Menschen eine Bildungschance bietet, würde Arbeitslosigkeit als Gesellschaftsproblem beseitigen. Aber Arbeitslosigkeit gehört zum Wesen des Kapitalismus. Die Arbeitslosenstatistik wurde dadurch geschönt, dass fast 50 Prozent aller Beschäftigten in Teilzeit, befristete Arbeitsverhältnisse, Leiharbeit und Scheinselbstständigkeit getrieben wurden. Die Reallöhne wurden kräftig gesenkt, mehr als jeder fünfte Beschäftigte arbeitet inzwischen im Niedriglohnsektor. Immer mehr Menschen wurden in die Armut getrieben. Das ist kein statistisches Problem, wie uns arrogante Politiker und Wissenschaftler erklären wollen.

Inzwischen ist bewiesen, dass Arme in Deutschland neun Jahre kürzer leben als Reiche. Die »Verteilungsgerechtigkeit« hat sich wesentlich verschlechtert. In den 20 OECD-Ländern, für die Daten verfügbar sind, haben sich zwischen 1995 und 2005 nur noch in Ungarn, Polen, Südkorea und Neuseeland die Löhne stärker auseinander entwickelt als in Deutschland. Das schlägt sich in der Vermögensverteilung nieder. Es besteht der groteske Zustand, dass das reichste Zehntel der Bevölkerung fast zwei Drittel des gesamten deutschen Volksvermögens besitzt, während zwei Drittel der Bevölkerung so gut wie nichts ihr Eigen nennen. Dieser Zustand wird nicht nur zementiert, sondern ständig auf erweiterter Stufenleiter ausgebaut. Die Armen werden ärmer, die Reichen reicher. Wir nähern uns amerikanischen Verhältnissen. Viele Menschen brauchen mehrere Jobs, um ihr Leben überhaupt noch bestreiten zu können.

Mit Sozialstaatlichkeit hat diese Entwicklung nichts mehr gemeinsam. Großen Teilen der Bevölkerung wird genommen, was sie sich erarbeitet haben und vor Jahren ihr Eigen nannten: Arbeit und bescheidenen Wohlstand. Das ist staatlich gelenkter Sozialraub durch die Besitzenden!

Es ist abwegig, von der herrschenden Klasse eine Veränderung dieser Verhältnisse zu erwarten. Die von der Bundesregierung initiierte Initiative »Neue Soziale Marktwirtschaft« stellt konkrete Forderungen zum weiteren Abbau der Sozialstaatlichkeit durch Senkung der Sozialabgaben, höhere Eigenbeteiligung und private Kapitalanteile in der Kranken- und Pflegeversicherung, längere unbezahlte Arbeitszeiten und weiteren Ausbau des Niedriglohnsektors. Das Anliegen der Sozialen Marktwirtschaft wird mit solchen Konzepten ad absurdum geführt.

Nach Meinung des obersten Hüters unserer Grundgesetzlichkeit, des Präsidenten des Verfassungsgerichtes Hans-Jürgen Papier, ist der weitere Abbau des Sozialstaates jedoch durchaus verfassungskonform. Der Bundespräsident pflichtet in einem Interview im Deutschlandfunk sofort bei. In seiner letzten Berliner Rede lobt er ausdrücklich die Agenda 2010, Riester-Rente und Rente mit 67 und fordert eine Agenda 2020. Die Bundeskanzlerin signalisiert Handlungsbereitschaft.

»Vordenker« und »Zukunftsforscher« wie Hans-Werner Sinn, Meinhard Miegel oder Rudolf Baring haben schon vor Jahren und immer wieder klar gemacht, wo es hingehen soll: in Eigenverantwortung und Selbsthilfe. Am konsequentesten nachlesbar bei Baring. Er will auf sämtliche staatlichen Sozialleistungen verzichten. Seine Lösung: Die Menschen schließen sich zu Alterskommunen mit kostengünstiger gegenseitiger Lebens- und Sterbehilfe zusammen. Die seit Jahren praktizierte Regierungspolitik von CDU/CSU sowie FDP, SPD und Grünen beweist, dass diese inhumanen Ziele schrittweise anvisiert werden.

Sozialraub ist verfassungswidrig. Die Artikel 14 und 15 des Grundgesetzes beinhalten bekanntlich die Sozialpflichtigkeit des Eigentums und das Recht zur Enteignung, wenn das Wohl der Allgemeinheit nicht durchgesetzt wird. Viele Landesverfassungen der alten Bundesländer enthalten soziale Anforderungen. Einige, wie die des Landes Hessen, tragen fast sozialistischen Charakter.

Chaotische Rechtsprechung

Die Durchsetzung derartiger verfassungsrechtlicher Bestimmungen wird jedoch nicht nur ignoriert, sie werden im Rechtsstaat BRD durch die herrschende Klasse ad absurdum geführt. Hinter der Fassade formal juristischer Regularien entpuppt sich der bundesdeutsche Rechtsstaat dem politischen Wesen nach als Unrechtsregime. Es ruht auf drei Säulen:

1. Fast 60 Jahre nach seiner Gründung besitzt dieser Staat keine demokratisch, vom Volk bestätigte Verfassung, sondern nur ein Provisorium: das Grundgesetz. Dieses wurde von einem Parlamentarischen Rat unter Konrad Adenauer erarbeitet und in Kraft gesetzt und niemals vom Volk bestätigt.

2. Gegen die entscheidenden Aussagen dieses Provisoriums und in noch stärkerem Maße gegen die vielfach durch Volksentscheide bestätigten Landesverfassungen wurde und wird zunehmend durch Wirtschaft und Politik in eklatanter Weise verstoßen. Der Staat Bundesrepublik Deutschland entwickelt sich in eine diametral andere Richtung, als es die Grundgesetzlichkeit vorsieht.

3. Durch die Gesetzgebung werden zunehmend Grundrechte eingeschränkt oder beseitigt. Der Gesetzesumfang sprengt jede zumutbare Grenze, jedwede menschliche Tätigkeit wird durch Gesetze und Verordnungen reglementiert. Die persönlichen Freiheiten sind dadurch wesentlich eingeschränkt. Die Rechtsprechung bis zur höchsten Instanz ist chaotisch. Gerichte urteilen zu gleichen Problemen diametral entgegen gesetzt. Kläger suchen sich deshalb die Gerichte aus, wo sie meinen, die größten Erfolgschancen zu haben. Rechtsbeugung, Rechtswillkür und Rechtsunsicherheit greifen unter dem Deckmantel des »Rechtsstaates« um sich.

Folglich wären andere Artikel des GG anzuwenden: Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist, sagt Artikel 20, Abs. 4. Landesverfassungen enthalten sogar die Pflicht, die Strafverfolgung des Schuldigen zu erzwingen. Wer nimmt diese Pflicht wahr?

Die Hüter und Schützer der Verfassung sind selbst Bestandteil des Systems. Die Verfassungsrichter in Bund und Ländern werden nach Parteienproporz berufen. Sie arbeiten im Auftrag der Regierungsparteien. Der Verfassungsschutz observiert die Falschen. Nicht die in Partei- und Regierungszentralen agierenden Verletzer elementarer Bestimmungen des Grundgesetzes werden bespitzelt, gemaßregelt und drangsaliert, sondern Linke, die für die Einhaltung grundge-setzlicher Wesensmerkmale, nicht nur auf ökonomischem Gebiet, kämpfen. Deshalb ist der verfassungsrechtlich geforderte Widerstand breitester Bevölkerungsschichten zu organisieren.

Unter Wahrung von Gewaltfreiheit sollten alle legalen Mittel von Massendemonstrationen, Streiks, Blockaden an Einrichtungen wirt-schaftlicher und politischer Macht und zivilen Ungehorsams ausgeschöpft werden. Dabei wird es nicht ausreichen, nur Erscheinungen des Systems zu bekämpfen. Das Beispiel der Lokführer und Milchbauern zeigt, dass durch Massenaktionen dem Kapital zwar zeitweilig Zugeständnisse abgerungen werden können, es aber sofort neue Methoden findet, diese zu umgehen.

Deshalb verspüren immer mehr Menschen mehr instinktiv als rational, dass die Verwerfungen und sich rasant verschärfenden Widersprüche nicht mehr innerhalb des Systems lösbar sind. Sie begehren zunehmend gegen die Erscheinungen auf, ohne jedoch die Systemfrage auf die Tagesordnung zu stellen. Die Linken können nicht nur Erscheinungen bekämpfen und einen Macht- und Politikwechsel anstreben. Sie sollten erkennen und den Menschen vermitteln, dass als Grundlage dafür ein Systemwechsel notwendig ist. Über die Wesensmerkmale eines neuen sozialistischen Gesellschaftssystems lohnt es sich, unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts neu nachzudenken. Theoretische und praktische Fragen sind auszudiskutieren.

Im Zentrum der politischen Debatte um eine gesellschaftliche Alternative stehen gegenwärtig zwei Probleme: die Eigentumsfrage und der Freiheitsbegriff. Beide Fragen sind im Kommunistischen Manifest, auf das sich neuerdings nicht nur ein Vorsitzender der Partei DIE LINKE, sondern sogar ein ehemaliger Generalsekretär der CDU beruft, beantwortet. Zur Eigentumsfrage heißt es im Manifest: »Mit einem Wort, die Kommunisten unterstützen überall jede revolutionäre Bewegung gegen die bestehenden gesellschaftlichen und politischen Zustände. In allen diesen Bewegungen heben sie die Eigentumsfrage ... als die Grundfrage der Bewegung heraus. In diesem Sinne können die Kommunisten ihre Theorie in dem einen Ausdruck: Aufhebung des Privateigentums (an Produktionsmitteln K.B.) zusammenfassen.«

Es wäre wünschenswert, wenn auch die Linken heute derartig klare Positionen zu dieser Grundfrage einnehmen. Dabei sollte unbestritten sein, dass es nicht um allgemeine Verstaatlichung, sondern um ein ausgewogenes Verhältnis zwischen staatlichem, genossenschaftlichen und privatem Eigentum bei Dominanz des ersten geht.

Sozialisten sollten sich auf die untrennbare Einheit zwischen Freiheit und Sozialismus verständigen. Unter Freiheit versteht man innerhalb der jetzigen bürgerlichen Produktionsverhältnisse den freien Handel, den freien Kauf und Verkauf. Fällt aber der Schacher, so fällt auch der freie Schacher, können wir im Kommunistischen Manifest nachlesen. Sozialisten sollten anerkennen, dass wirkliche persönliche Freiheit eine soziale Grundlage haben muss. Sie sollten aufhören, den realen Sozialismus wegen fehlender persönlicher Freiheiten zu diffamieren. Für die zweifelsfrei eingeschränkten Frei-heitsrechte gab es Gründe, historische Bedingungen, ökonomische Ursachen, wie auch unbestrittene Verfehlungen.

Eine Voraussetzung, um den Sozialismus erneut auf die Tagesordnung der Geschichte setzen zu können, ist, klare Position zu den Ursachen der Niederlage und den notwendigen Schlussfolgerungen zu beziehen. Es wäre wünschenswert, wenn sich Linke fast 20 Jahre »danach« darüber verständigen könnten. Damit würde dem politischen Gegner und eigenen Fehlinterpretationen der Wind aus den Segeln genommen. Ausgangspunkt sollten die sozialistischen Errungenschaften und die historischen Bedingungen sein. Wichtigstes Ziel sollte es sein, aus der Niederlage zu lernen.

Es ist offensichtlich, dass eine entscheidende Lehre für die Gestaltung eines Sozialismus im 21. Jahrhundert darin besteht, dass die Menschen von einer anderen Lebensphilosophie als der des immer weiter steigenden Konsums materieller Güter ausgehen. Sozialismus ist mehr als konsumieren. Die Vorteile und Stärken eines Lebens in Frieden, mit Arbeit und in sozialer Geborgenheit, gebildet und kulturvoll, eingebunden in die Gemeinschaft, gleichberechtigt zwischen Geschlechtern, Rassen und Kulturen sind sozialistische Wesensmerkmale, deren Bedeutung der Mensch offenkundig erst dann begreift, wenn sie ihm abhanden gekommen sind.

Anforderungen an linke Politik

Die internationalen Entwicklungen, besonders in Lateinamerika, bestätigen Grundsätze sozialistischer Politik: Die Vergesellschaftung von Grund und Boden, die Verstaatlichung der wichtigsten Rohstoffvorkommen und Schlüsselindustrien, die weitgehende Abkopplung vom internationalen Finanzkapital durch Schaffung eigener Märkte und Finanzinstitutionen, die demokratische Einbeziehung breiter Kreise der armen und unterdrückten Bevölkerung, die Sicherung der Grundbedürfnisse, kostenlose Bildung und Gesundheitsversorgung nach dem Beispiel Kubas und die volksdemokratische Mitbestimmung sind Wesensmerkmale dieser neuen historisch bedeutsamen Entwicklungen. Dabei haben wir zur Kenntnis zu nehmen, dass die revolutionären Zentren nicht in den hoch entwickelten kapitalistischen Industrieländern, sondern in Entwicklungsländern liegen. Das wirft neue Fragen der Revolutionstheorie und revolutionären Praxis auf, die von der europäischen Linken offensichtlich noch nicht beantwortet wurden.

Wir sollten uns als europäische und deutsche Linke jedoch endlich zu gemeinsamen Zielen und Aktionen verständigen und aufhören, im Glauben, jeder habe die Wahrheit gepachtet, uns gegenseitig polemisch und organisatorisch auseinander zu dividieren. Statt dessen sollten wir uns auf die Positionen stützen, in denen wir uns einig sind. Links sind alle Kräfte, die bereit sind, das kapitalistische System zu bekämpfen, um es letztlich zu überwinden. Diese Kräfte müssen gebündelt werden.

Alle Bestrebungen zur Aktionseinheit verdienen unsere volle Unterstützung. Politik heißt vorrangig, Menschen zu überzeugen und zu mobilisieren. Diese Aufgabe wird im bürgerlichen Parlamentarismus mit seiner Flut von Gesetzgebungen weitgehend vernachlässigt. Der Parlamentarismus muss deshalb durch außerparlamentarische Massenaktionen seine wirkungsvolle Unterstützung finden.

Der Autor, Dr. oec., Jg. 1936, ist Verfasser mehrerer kapitalismuskritischer Publikationen, u. a. Mitautor des Bestsellers »Die Schulden des Westens«.

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